Lena Stehr

Die Angst der Frauen

Die meisten Frauen fühlen sich allein im öffentlichen Raum unsicher - vor allem im Dunkeln.

Bild: eli ramos

Fast jede Frau ist schon in der Öffentlichkeit belästigt worden, viele trauen sich im Dunkeln nicht oder nur mit einem mulmigen Gefühl allein nach draußen. Das Thema steht dieses Jahr im Fokus der Kampagne „Orange The World“.

Die Party in der Stadt ist vorbei, es ist spät geworden. Für die Frau, die allein nach Hause muss, beginnt nun etwas, das jede Frau so oder so ähnlich kennt, aber von dem nur die wenigsten Männer eine klare Vorstellung haben.

Die Frau zieht sich eine weite Jacke über die enge Kleidung, stopft die lauten Pumps in den Rucksack und schlüpft in ihre Turnschuhe. Sie geht geduckt und schnell durch die verlassene Straße und achtet darauf, nicht zu nah an den dunklen Hauseingängen vorbeizulaufen. In ihrer Jackentasche hält sie eine Dose Pfefferspray fest umklammert. Ihr Herz schlägt schnell.

Am Bahnsteig steht sie direkt unter einer der Laternen, in größtmöglicher Entfernung von größeren Männergruppen. Sie hat inzwischen Kopfhörer auf, obwohl sie gar keine Musik hört, sondern jedes Umgebungsgeräusch genau wahrnimmt. Mit stoischem Gesichtsausdruck wartet sie auf die Bahn. Dann steigt sie ein und scannt die Menschen ab. Mit Bedacht wählt sie ihren Platz oder bleibt gleich an den Türen stehen. Sie starrt auf ihr Handy und schreibt sich Nachrichten mit ihrer Freundin. An der richtigen Haltestelle angekommen, geht sie zügig zum Parkplatz. Den Autoschlüssel hat sie bereits in der Hand, ihren Haustürschlüssel hält sie fest eingeklemmt zwischen Zeige- und Mittelfinger - wie eine Waffe. Ihr Herz rast, sie achtet wieder auf jedes Geräusch. Endlich am Auto angekommen, reißt sie die Tür auf, schmeißt sich hinters Steuer und drückt sofort auf den Zentralverriegelungsknopf.

Die Anspannung fällt erst wieder von ihr ab, als sie schließlich die Haustür hinter sich abschließt und ihrer Freundin schreibt: „Bin gut angekommen. Gute Nacht.“

 

Fast jede Frau fühlt sich im öffentlichen Raum unsicher

 

So oder so ähnlich ergeht es den meisten Frauen im öffentlichen Raum, wenn es dunkel wird. Nicht weil sie einfach ängstlich wären. Sondern weil die meisten von ihnen hier bereits unangenehme Situationen mit Männern erlebt haben. Deshalb hat „jede Frau ein eigenes Programm, das sie abspult, wenn sie allein im Dunkeln unterwegs ist, auch wenn sie grundsätzlich nicht ängstlich ist“, sagt Andrea Vogelsang, Gleichstellungsbeauftragte der Gemeine Ritterhude.

Zu den nicht nur unangenehmen, sondern auch bedrohlichen Situationen zählen - häufig verharmloste - Übergriffigkeiten wie der „Poklatscher“ in der Disco sowie Hinterherpfeifen und anzügliche Kommentare und Gesten. Es kommt aber auch zu physischer Bedrängung, wie festhalten oder in den Weg stellen.

Laut einer Umfrage von UN Women UK aus 2021 haben 97 Prozent der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren bereits sexualisierte Gewalt in Form von Belästigungen im öffentlichen Raum erlebt. Neun von zehn Frauen weltweit geben an, sich an öffentlichen Orten unsicher zu fühlen.

Eine im November 2022 veröffentlichte repräsentative Bevölkerungsbefragung des Bundeskriminalamts über „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ mit 47.000 Teilnehmenden kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem Frauen ihr Verhalten im öffentlichen Raum ändern, weil sie sich unsicher fühlen. Mindestens jede zweite Frau vermeide am Abend bestimmte Orte und auch den ÖPNV.

 

„Angsträume“ sicherer machen

 

Andrea Vogelsang kennt zudem viele Frauen, die im Dunkeln gar nicht mehr das Haus verlassen, weil sie Angst vor Männern bzw. sexueller Gewalt haben. „Dass Frauen durch solche Ängste derart in ihrem Leben und ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, ist gesellschaftlich höchst problematisch, und wir müssen diese Ängste ernst nehmen“, so Vogelsang.

Ihr liegt daher daran, gezielt „Angsträume“ im öffentlichen Raum ausfindig und - zum Beispiel durch bessere Beleuchtung und Einsehbarkeit - sicherer zu machen. Für Anfang des Jahres bietet sie deshalb in Ritterhude einen „Safety Walk“ im Dunkeln für Frauen an.

Grundsätzlich sei es wichtig, auch die Lokalpolitik auf das Problem aufmerksam zu machen. In den meisten Bauausschüssen würden überwiegend Männer sitzen, die bei städtebaulichen Planungen das Thema „Angsträume“ kaum oder gar nicht auf dem Schirm hätten. Männer müssten im Allgemeinen mehr sensibilisiert werden und ihr eigenes Verhalten oder das von anderen Männern hinterfragen. Wer im Dunkeln eine Frau alleine laufen sieht, sollte zum Beispiel die Straßenseite wechseln oder in einem großen Bogen überholen, um nicht das Gefühl zu erwecken, er verfolge sie, sagt Vogelsang.

 

„Orange the World“

 

Gewalt gegen Frauen und Mädchen im öffentlichen Leben – inklusive der digitalen Welt – steht dieses Jahr auch im Fokus der UN-Kampagne „Orange The World“, die vom Internationalen Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen am 25. November bis zum 10. Dezember läuft. Im Landkreis Osterholz wird unter anderem mit orangefarbenen Stühlen, Plakaten und Roll-Up-Bannern an öffentlichen Orten sowie mit einer Postkarten-Aktion auf Anlaufstellen für Frauen aufmerksam gemacht. Zudem wird an allen Rathäusern die Flagge „Gewaltfrei Leben – keine Gewalt gegen Frauen“ wehen.

Maren Stabel, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Bremervörde, wird im Rahmen der Orange Days unter anderem Taschenalarme an Frauen verteilen, die im Dunkeln von der Arbeit nach Hause gehen. Wird der Alarm ausgelöst, ertönt ein 100 Dezibel lautes Signal, das dem einer Auto-Alarmanlage ähnelt. Der Alarm ist auch mit einer Taschenlampe ausgestattet. Im Landkreis Rotenburg bieten die Gleichstellungsbeauftragten zudem zusammen mit den Landfrauen und der Beratungsstelle BISS ab Montag, 13. November, ein abwechslungsreiches und kostenfreies Programm an. Mehr Informationen zu den Aktionswochen gibt es auf Instagram (gleichgestellt-row).


UNTERNEHMEN DER REGION