Lea Fischer

Alle und niemanden

Der ANZEIGER hat die Landes-Informationsbroschüre über Antisemitismus unter die Lupe genommen.
Bitterer Alltag: Jüdisches Leben, wie Marina Weisband am 27. Januar in ihrer Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag sagte, ist in Deutschland entweder unsichtbar oder muss, wo es sichtbar wird, polizeilich geschützt werden.

Bitterer Alltag: Jüdisches Leben, wie Marina Weisband am 27. Januar in ihrer Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag sagte, ist in Deutschland entweder unsichtbar oder muss, wo es sichtbar wird, polizeilich geschützt werden.

Nie wieder! Ein Satz, den man am Gedenktag der Opfer des Holocaust allerorten vernommen hat. Aber auch ein Satz, dem die Landesregierung Taten folgen lassen will. Eine davon ist die Herausgabe einer Aufklärungsbroschüre über Antisemitismus. - Der ANZEIGER hat sie unter die Lupe genommen. Letzte Woche hat das Justizministerium eine Informationsbroschüre zu Antisemitismus in Niedersachsen veröffentlicht. Die Publikation umfasst knapp 30 Seiten und kann kostenlos über die Homepage des Ministeriums heruntergeladen werden. „Das Einstehen gegen Antisemitismus ist eine Aufgabe, die uns alle angeht“, sagt Justizministerin Barbara Havliza. „Wir müssen deshalb genau hinsehen und zuhören, wir müssen uns informieren und uns auch kritisch hinterfragen, was wir zur Bekämpfung von Antisemitismus beitragen können. Und dies dann auch tun!“, so Havliza. Das Ministerium reiht die Publikation ein in sein mittlerweile verstärktes Engagement gegen Antisemitismus. So werden inzwischen nicht nur einige Präventions-Projekte aus Landesmitteln gefördert. Im Oktober 2019 hatte die Regierung zudem einen eigenen Landesbeauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens berufen. Die ehrenamtliche Stelle von Franz Rainer Enste ist im Justizministerium angesiedelt. Eine gute Basis Den Kern der Broschüre bildet ein längerer Artikel der Politikwissenschaftlerin Dana Ionescu, der, wie es in der Überschrift heißt, darauf abzielt, das komplexe Phänomen Antisemitismus „greifbar zu machen“. Ionescu beschreibt darin nüchtern und differenziert die grundlegenden Funktionsweisen des Antisemitismus, seine historische Entwicklung sowie aktuellen Erscheinungsformen. Als zentrale Varianten macht sie seine Verbindung zu Verschwörungsideologien verschiedener Art, den speziellen Antisemitismus nach 1945 sowie den auf den Staat Israel bezogenen Antisemitismus aus. Zudem geht Ionescu anhand Statistiken auf die Verbreitung von Antisemitismus in Europa und Deutschland ein. An einigen antisemitischen Vorfällen in Niedersachsen zeigt sie, dass Judenhass nicht nur scheinbar weit weg oder in der digitalen Welt, sondern auch vor der eigenen Haustür stattfindet. Der Artikel ist ein guter Einführungstext für diejenigen, die wissen wollen, worum es sich beim Phänomen Antisemitismus überhaupt handelt. Der Artikel stellt eine gute Basis für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema dar. Jüdische Stimmen kommen zu Wort Die Broschüre enthält darüber hinaus kurze Interviews mit Michael Fürst, dem Vorsitzenden des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, sowie mit Rebecca Seidler, der Antisemitismusbeauftragten des liberalen Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen. Die Antworten der beiden Interviewten machen deutlich, dass es im Detail durchaus verschiedene Positionen zu den Strategien und Ansätzen der Antisemitismusbekämpfung gibt. Angesichts des vielerorts fehlenden Wissens über die Vielfalt jüdischen Lebens dürfte es zudem von Bedeutung sein, dass hier zwei Aktive jüdischer Gemeinden unterschiedlicher religiöser Ausrichtung zu Wort kommen. Die Broschüre stellt weiter drei Projekte gegen Antisemitismus vor, die mit Fördermitteln des Landes Niedersachsen im vergangenen Jahr unterstützt wurden. Das sind ein Empowerment-Projekt des liberalen niedersächsischen Landesverbands, die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen sowie ein Projekt im Bereich Fußball. In einem Kontaktteil der Broschüre werden darüber hinaus Beratungsangebote genannt, die Unterstützung für von Antisemitismus direkt betroffene Personen anbieten. So etwa die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus und die Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Unklarer Adressat Die Publikation der Broschüre ist angesichts der antisemitischen Bedrohung selbstverständlich sinnvoll. Doch stellt sich die Frage, welche Leser:innenschaft eigentlich adressiert werden soll. Die Beiträge sind größtenteils so allgemein gehalten, dass spezielle Zielgruppen mit jeweils besonderen Bedarfen - beispielsweise von Lehrer:innen, Schüler:innen, Studierende, Richter:innen oder Polizist:innen etwa - nicht passgenau erreicht werden dürften. Es ist zu befürchten, dass die Broschüre nur diejenigen zur Hand nehmen, die sich ohnehin schon auskennen - jene also, die genau deswegen aber mit einer thematisch weiterführenden Publikation besser abgeholt werden würden. Foto: adobestock/ungvar


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