Hendrik Wallat

Das Buch der Stunde

Der Sozialphilosoph Ingo Elbe liefert mit seinem Buch „Antisemitismus und postkoloniale Theorie“ eine gelungene Generalabrechnung mit postkolonialer Ideologie.

Das Buch „Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der progressive Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung“ ist im Tiamat Verlag erschienen und für 28 Euro erhältlich.

Das Buch „Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der progressive Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung“ ist im Tiamat Verlag erschienen und für 28 Euro erhältlich.

Bild: Elbe

Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Die Studie Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der ‚progressive‘ Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung von Ingo Elbe ist das politische Buch der Stunde. Während derzeit die westliche Politik und Öffentlichkeit immer stärker Israel in den Rücken fällt, stellt das Buch eine ungemein materialreiche Aufklärungsarbeit dar; den Arbeitsfleiß des Autors dokumentiert ein über fünfzig Seiten umfassendes Literaturverzeichnis.

Entscheidender als diese quantitative Dimension der Aufklärung ist indessen die inhaltliche Qualität der Studie: Die Argumentation von Elbes Kritik postkolonial-antirassistischer Ideologie, ihres Angriffs auf Israel und ihrer Desartikulation des Antisemitismus überzeugt. Und der strukturelle Aufbau des Buches gestaltet sich als ausgesprochen perspektivenreich.

 

Die begriffliche Eliminierung des Antisemitismus

 

Ausgehend von der in der Einleitung exponierten Skizze der „globalisierten ideologischen Offensive gegen Israel, Holocausterinnerung und Judentum […], die neben klassischen Rechten und Islamisten auch sich als linke, antirassistisch und postkolonial verstehende Akteure vollziehen“ (S. 11), widmet sich das erste Großkapitel des Buches der begrifflichen Eliminierung des Antisemitismus. In einem ersten Schritt kritisiert Elbe die (anti-rassistische) Subsumtion des Antisemitismus unter den Oberbegriff des Rassismus. Dass der Antisemitismus zwar stellenweise historische und systematische Überschneidungen mit letzterem aufweist, an sich aber ein soziales Phänomen eigener Art und mit eigener Geschichte ist, wird detailliert dargestellt. Instruktiv wie pointiert werden dort die vormodernen, christlichen Wurzeln des Antisemitismus wie auch die Spezifik des modernen Antisemitismus erörtert, wobei zentrale Differenzen zum Rassismus deutlich gemacht werden. Dieser gehorcht der Logik der Ausbeutung und Unterwerfung mittels der Naturalisierung von Herrschaftsverhältnissen, die auf die Abwertung und Entrechtung vermeintlicher ‚niederer Menschenrassen‘ abzielt. Dem Antisemitismus hingegen ist die Logik der Vernichtung eigen, da die Juden als das personifizierte Böse, als verschwörerische Gegenrasse und zersetzender Todfeind aller Völker imaginiert werden. Dementsprechend unterschiedlich fallen auch die rassistischen und antisemitischen Stereotypen und Visualisierungen aus.

 

Kritik, die ihren Gegenstand ernst nimmt

 

Das nächste Großkapitel widmet sich der (postkolonialen) „Holocaustrelativierung“. Zunächst leistet Elbe eine überzeugende und die zentralen Argumente versammelnden Erörterung des Bedeutungsgehalts der historischen Singularität des Holocaust. Dabei unterlässt er es nicht, die irrationalen Fassungen der Singularitätsthese zurückzuweisen. Darüber hinaus liefern die weiteren Unterkapitel kritische Diskussionen postmoderner Holocaust-Relativierungen von ‚links‘. Die Darstellung Elbes brilliert hier wie auch in den folgenden Kapiteln durch die passgenaue Synthese analytischer Kritik an besagten Ideologien, historischer Aufklärung mittels empirischer Einlassungen sowie Deutung des Zusammenhangs von konkreter Politik und Ideologieproduktion. Der Verfasser setzt dabei nicht auf Polemik, sondern - man ist geneigt zu sagen: trotz allem - auf die Kraft des überzeugenden Arguments. Das gelingt Elbe, ohne das Anliegen postkolonialer Wissenschaft, die Bedeutung des Kolonialismus und seiner Verbrechen angemessen sichtbar zu machen, in irgendeiner Weise zu diskreditieren.

 

Eine Generalabrechnung

 

Widmeten sich die ersten beiden Kapitel vor allem dem Begriff des Antisemitismus im Allgemeinen und des Holocaust im Besonderen, so nimmt sich das nächste Großkapitel der „Dämonisierung Israels“ an. Diese wird als ein Resultat der postkolonialen Holocaustrelativierung und ihres fehlenden Begriffs des Antisemitismus gedeutet: „Wer keinen Begriff von Antisemitismus hat und die Spezifik der Shoah einebnet, kann - mindestens - auch keine Sensibilität für die Notwendigkeit des Zionismus und des jüdischen Staates entwickeln.“ (S. 169).

Das fünfte Großkapitel „Der postkoloniale Blick auf ‚die Anderen‘“ steigert sich sodann Seite für Seite zur einer Generalabrechnung mit dem theoretischen Widersinn postkolonialer Ideologie auf der einen und ihrer politischen Konsequenzen auf der anderen Seite. Der abgeräumte ideologische Schutt birst nur so vor argumentativen Widersprüchen, die sich in regressiver Politik im Allgemeinen und postkolonialer Israelkritik im Besonderen politisch bahnbrechen. Es ist hier weder möglich noch nötig auf die philosophischen Ausführungen von Elbe im Detail einzugehen. Es genügt festzuhalten, dass alleine schon diese vierzig Seiten die Lektüre des Buches zu einem begrifflichen Gewinnunternehmen machen. Dies rührt vor allem daher, dass Elbe sich nicht einfach polemisch über den Gegner auslässt, sondern ihn beim Wort nimmt und ihn derart seiner unzähligen Widersprüche überführt. Das Kapitel endet dann, gleichsam von der philosophischen Grundlagenkritik sich wieder zur politikwissenschaftlichen Analyse bewegend, in einem abermals sehr gelungenen Abriss der postkolonialen „Verleugnung des islamischen Antisemitismus“.

Elbes wichtiges Buch sei all jenen zur Lektüre ans Herz gelegt, die in Zeiten der „regressiven Entwicklung, die in progressiver Form daherkommt“ (S. 348), nach wie vor und dringender denn je an Aufklärung und der Abwehr von Ideologie interessiert sind.

 

Dr. Hendrik Wallat ist Dozent für Sozialwissenschaften in Hannover und schreibt gerne Rezensionen.


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