
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Stellen Sie sich vor, sie leben seit Jahren in einer Beziehung. Sie ist nicht ganz einfach, bisweilen schwer, aber sie spüren diese scheinbar einmalige Verbindung zum Anderen. Und Beziehung, das ist halt Arbeit. Nach Jahren die Idee: Zusammenziehen. Den Schritt nach vorne wagen, die Probleme hinter sich lassen. In der kontrafaktischen Hoffnung, sie lägen in der räumlichen Trennung (während sie in der Ambivalenz der Gefühle zueinander und zur Beziehung liegen).
Und siehe da: Es klappt besser. Doch nachdem die Freude über die räumliche Vereinigung abgeklungen ist, die die Ambivalenzen im Zaum hielt, tauchen die Probleme wieder auf. Und dann fällt ihnen auf: An der Gestaltung der gemeinsamen Wohnungen hatten sie gar keinen Anteil. Unbewusst haben sie beim Einzug darauf verzichtet, eigene Vorstellungen einzubringen. Sie wollten die Freude über das gemeinsame Zuhause nicht gefährden. Weil ihnen im Grunde klar ist, dass sie einander als Individuen überhaupt nicht ausstehen können, sondern einander nur als Vervollkommnung des Bildes, das sich von sich entwerfen wollen, brauchen. Weil sie eigentlich wissen, dass ihre „einmalige“ Verbindung letztlich aus der allgemeinen Angst vor dem Alleinsein resultiert.
Im emphatischen Sinne menschlich, d. h. sich wie ein Wesen verhaltend, das anderen nicht schaden will, wäre, jene unheilvolle Beziehung zu lösen.
Deutsch hingegen ist - weil Deutsche nun einmal Menschen sind, die keine Lüge aussprechen können, an die sich nicht selbst glauben, wie Theodor Adorno einst schrieb - feierliche Rituale abzuhalten, um die grundsätzlichen Unvereinbarkeiten in der Latenz zu halten. Damit die Verbindung nicht gefährdet wird. Denn Gemeinschaft wird in Deutschland - privat wie politisch - großgeschrieben.
So schleppt man sich auf der einen Seite alljährlich zum gemeinsamen Jahrestag in ein schlechtes Restaurant, wo man sich erst müde, dann besoffen anlächelt. Und auf der anderen Seite feiert man am 3. Oktober die sogenannte „Wiedervereinigung“ und beschwört, dass die Menschen sich in Ost und West immer weniger fremd würden.
Verstehen sie meine Allegorie nicht falsch: Es geht mir weder darum, dass man Deutschland wieder teilen sollte, noch darum, zu behaupten, die Menschen, die hier leben, könnten sich nicht irgendwann weniger fremd werden.
Mir geht es darum, dass die Menschen sich als Deutsche immer fremd bleiben werden. Und dass dieser alljährliche Einheitsfirlefanz die Deckgeschichte dieser Tatsache ist und dafür, dass aus ihr solche Probleme wie Rassismus und Antisemitismus entstehen. Begründen doch die rechtsradikalen Attentäter allein aus diesem Jahr mit ihrer Angst um die Auflösung der deutschen Gemeinschaft ihre Taten.
Die Einschwörung aufs nationale Kollektiv ist nicht der Weg, auf dem die Menschen sich ent-entfremden, sondern Ausdruck des genauen Gegenteils: ihrer Entfremdung von sich als Individuen und voneinander als Menschen.
Der alljährliche Nationalkitsch schafft genauso wenig eine wahre Einheit der Menschen wie ein voneinander gelangweiltes und enttäuschtes Paar wieder zusammenfindet, wenn es lediglich besoffen miteinander in die Kiste steigt.
Nicht fremd werden die Menschen sich hierzulande und anderswo nicht durch eine bloße Angleichung der Lebensverhältnisse. Nicht fremd wären sich die Menschen erst, wenn sie sich als Menschheit begriffen und ihre Lebensverhältnisse so änderten, dass es der Nationalkollektive als muffigen Ersatz für individuelles Glück nicht mehr bedürfte.