„Die wichtigste Insel der Welt“

Ralf G. Poppe 214

Klaus Bardenhagen gibt im Interview Einblicke in Taiwans komplexe Geschichte.

Ebersdorf. Klaus Bardenhagen lebt und arbeitet seit 2009 als freier Auslandskorrespondent (taiwanreporter.de) in Taiwan. Jahrelang war er der einzige deutsche Reporter vor Ort. In zahlreichen Beiträgen für deutschsprachige Print- und Online-Medien, in Radio- und Fernseh-Beiträgen, sowie in dem von ihm moderierten Podcast „Taiwancast“ berichtete er über seine zweite Heimat.

Zudem berichtete Bardenhagen, der in Bremervörde geboren und in Ebersdorf aufgewachsen ist, in den Jahren 2010 bis 2017 für seine Rubrik „Tschüß Bremervörde, ni hao Taiwan“ mit insgesamt 172 Folgen auch für den Bremervörder Anzeiger aus Taiwan.

Bradenhagen machte 1996 in Bremervörde sein Abitur, zog zum Studium weg und kam danach fürs Volontariat beim NDR nach Norddeutschland zurück. Anschließend arbeitete er beim NDR ein paar Jahre als freier Fernsehjournalist, vor allem für die Sendung „Markt“. 2008 ging es für ihn mit einem Journalistenstipendium erstmals nach Taiwan.

Nun hat Bardenhagen im angesehenen Herder Verlag mit „Die wichtigste Insel der Welt - Was Sie wissen müssen, um Taiwan zu verstehen“ sein erstes Buch veröffentlicht. Und die Inhalte natürlich gleich nach seiner Ankunft mit der Redaktion diskutiert.

 

Eigentlich hatten Sie nicht geplant, in Taiwan sesshaft zu werden. Oder?

 

Ursprünglich ging es nur um ein dreimonatiges Journalistenstipendium, mit dem damals ausländischen Journalisten die Gelegenheit gegeben wurde, Taiwan kennenzulernen, dort einen Sprachkurs zu besuchen. Als ich das Angebot gesehen hatte, war meine erste Reaktion: `Taiwan, da weiß ich ja gar nichts drüber‘. Ich war zuvor nie in Asien gewesen, habe auch nicht im Traum daran gedacht, irgendwann Chinesisch zu lernen. Aber ich dachte mir, das klingt interessant. Warum nicht einmal drei Monate in irgendein Land gehen, das ich sonst nie kennenlernen würde. Vielleicht lohnt es sich ja. Und wenn nicht, bin ich drei Monate später wieder zurück. So habe ich Taiwan kennengelernt, und in diesen drei Monaten gemerkt, dass es journalistisch wahnsinnig interessant ist, was dort passiert. Und dass bislang so wenig darüber berichtet wurde, weil eigentlich niemand dort lebte, der erzählen konnte, was in Taiwan los ist. Dann habe ich gemerkt, dass es tatsächlich möglich ist, Chinesisch zu lernen, wenn man vor Ort am Ball bleibt. Es waren also mehrere Gründe, die mich bewogen haben, dort zu bleiben. Die beruflichen Aussichten waren ebenfalls gut. Ich dachte, wenn in Taiwan niemand ist, kannst du der Taiwan-Korrespondent nicht nur für den NDR, sondern für viele andere Medien sein. Mir war klar, dass ich mich breit aufstellen muss, um für alle, die Interesse an Taiwan haben, zu berichten. Sowohl für das Fernsehen als auch fürs Radio sowie mit Texten. Ich hatte zum Glück damals gleich die Idee, unter der Bezeichnung `Taiwanreporter‘ aufzutreten, und sicherte mir die Domain `taiwanreporter.de´.

 

War es schwierig, Chinesisch oder auch Taiwanesisch zu lernen?

 

Die offizielle Sprache in Taiwan ist Mandarin. Also dasselbe Chinesisch, das auch die offizielle Sprache der Volksrepublik China ist. Es gibt zudem Taiwanesisch, eine Regionalsprache wie etwa Kantonesisch auch. Das unterscheidet sich von Mandarin so sehr wie Deutsch und Schwedisch, sagt man. Taiwanesisch ist vergleichbar mit Plattdeutsch hier bei uns. Es ist eine Sprache, die eher von älteren Leuten sowie in ländlichen Regionen gesprochen wird. Doch für mich hat Mandarin gereicht. Wir hatten die besagten drei Monate jeden Tag Unterricht. Die ersten sechs Wochen habe ich mich gefühlt wie im falschen Film, weil ich dachte, diese Sprache kann man überhaupt nicht lernen. Es gab keine Ähnlichkeiten zu europäischen Sprachen. Die Schriftzeichen kamen noch dazu. Ich begann zunächst damit, mir die einfachsten Wörter zu merken - ich, du, gehen, machen, morgen, gestern. Die klingen dort völlig anders. Wir haben das Glück in Europa, dass die meisten Sprachen mit Latein zu tun hat. In Taiwan fängst du mit einem völlig leeren Blatt an, quasi bei null. Ich wollte aber nicht der blödeste Student im Kurs sein, habe immer die Hausaufgaben gemacht, und tatsächlich hat es nach sechs Wochen dann Klick gemacht. Plötzlich konnte ich mir Sachen merken und im Gehirn besser abspeichern. Ab dem Moment hat es großen Spaß gemacht. Nach meinem Umzug habe ich noch fast drei Jahre lang weiter Sprachkurse besucht, bis ich dann an einem Punkt war, wo ich dachte, es reicht jetzt.

 

Auf welchem Niveau können Sie jetzt in Taiwan diskutieren?

 

Die Taiwaner loben gerne Ausländer, die Chinesisch sprechen.

Egal, wie du da stammelst. Die würden immer sagen, super. Ich bin auf einem Niveau, wo ich mich im alltäglichen Leben gut bis sehr gut verständigen kann. Aber ich mache natürlich immer noch Grammatikfehler, benutze manchmal nicht die exakt passende Vokabel. Gefühlt würde ich sagen, ich habe ein Niveau von 70 Prozent erreicht. Ich habe ja auch erst mit über 30 Jahren angefangen zu lernen.

 

Verkaufen Sie ihre Beiträge auch in andere europäische Länder?

 

Ich habe mich von Anfang an darauf spezialisiert, auf Deutsch zu berichten, weil es zum Beispiel in Taiwan eine ganze Reihe englischsprachiger Journalisten gibt. Meine Marktlücke, sozusagen meine Spezialität, war auf Deutsch zu berichten.

 

1972 ist Taiwan noch als ‚Republik China‘ bei den Olympischen Spielen aufgetreten…

 

In München, ja. Jetzt sind wir an dem Punkt, wo es an Taiwans Geschichte geht. Da frage ich immer, wie viel Zeit steht zur Verfügung, damit ich angemessen erklären kann. Dafür müsste ich jetzt weit ausholen und eine halbe Stunde erzählen.

 

Geht es für unsere Leser:innen eventuell ein bisschen kürzer?

 

Ich will es versuchen. Taiwans jetzige vertrackte und komplizierte politische Situation hat ihre Wurzeln im Jahr 1949, als der chinesische Bürgerkrieg mit dem Sieg der Kommunisten auf dem Festland endete. Mao Zedong hat die Volksrepublik ausgerufen, und die Verlierer des chinesischen Bürgerkriegs, die Nationalisten um Chiang Kai-shek, zogen sich auf die Insel Taiwan zurück, weil sie keinen anderen Platz mehr hatten, wo sie hinkonnten. Sie haben dort ihr Land, Nationalchina, weitergeführt, unter der offiziellen Staatsbezeichnung Republik China. Im Kalten Krieg in den 50er und 60er Jahren gab es die etwas absurde Situation, dass diese auf Taiwan zusammengeschrumpfte Republik China vom Westen mit den USA vorneweg als legitime Vertreterin ganz Chinas anerkannt wurde, und auch Gründungsmitglied der UN war. Zu Beginn der 70er Jahre hat dann zunächst eine Mehrheit in den UN gesagt, die Volksrepublik vertritt China. Also musste die nationalchinesische Diktatur, die Taiwan zu der Zeit war, die UN verlassen. Gegen Ende der 70er Jahre haben auch die USA offizielle diplomatische Vertretungen mit Peking aufgenommen und sie mit Taipeh abgebrochen. Trotzdem bestand und besteht immer noch dieser sich selbst regierende Staat auf Taiwan, dessen offizieller Name Republik China lautet. Er hat immer noch eine Verfassung, die ursprünglich für ganz China geschrieben wurde. Dieser Staat hat ist mittlerweile keine Ein-Parteien-Diktatur mehr. Er hat sich seit Anfang der 90er Jahre zu einer Mehrparteien-Demokratie mit Meinungsfreiheit und allem, was dazugehört, entwickelt. Taiwan gilt mittlerweile in einigen Demokratierankings als freieste Demokratie in Asien angesehen, mindestens auf Augenhöhe mit Japan oder Südkorea. Dieser Staat hat sich sehr stark gewandelt. Wenn man in den 70er Jahren noch mit Fug und Recht behaupten konnte, dass er an der Illusion festhielt, selbst ganz China zu repräsentieren, und gleichzeitig dem Rest der Welt vormachte, er wäre demokratisch, ist mittlerweile ein Staat daraus geworden, der wirklich demokratisch ist und der lediglich aufgrund des Drucks aus Peking noch immer an dem Namen Republik China sowie seiner alten Verfassung festhalten muss. Wenn Taiwan das ändern würde, wäre das die berühmte Unabhängigkeitserklärung, die Peking als Vorwand für Krieg nehmen könnte. Eigentlich nur deswegen sind die Taiwaner heute immer noch an dieses alte, irgendwann einmal aus China gekommene System gefesselt, obwohl sie sich in Wirklichkeit längst daran gewöhnt haben, ihr eigenes Ding zu machen, sich selbst zu regieren. Taiwan möchte nicht mehr mit der Volksrepublik China zusammenwachsen. Hongkong dient da als abschreckendes Beispiel.

 

Wo es zunächst hieß, 50 Jahre ändere sich nichts an deren Eigenständigkeit. Dann wurde bereits nach zirka 20 Jahren doch alles anders...

 

Peking hatte eine Zeit lang versucht, es Taiwan schmackhaft zu machen, sich - wie Hongkong - dem Land anzuschließen. Stichwort `Ein Land, zwei Systeme‘. Hongkongs völkerrechtliche Situation ist aber nochmal eine andere. Dort ist es viel unstrittiger, dass die Volksrepublik China eine Oberhoheit hat, nachdem die Briten sich zurückgezogen haben. Peking hat sich damals überlegt, die Taiwaner sollen es früher oder später auch als attraktive Möglichkeit ansehen, einen ähnlichen Weg einzuschlagen. Man hatte Hongkong nach der Übernahme 1997 zugesichert, 50 Jahre lang sein eigenes rechtsstaatliches System erhalten zu können. Mit demokratischen Elementen.

 

Nach nicht einmal der Hälfte der Zeit war dann alles anders…

 

Weil 2019 die Proteste in Hongkong eskalierten, hat China unter Xi Jinping sich entschieden, da jetzt `den Deckel drauf zu machen‘, um für `Ruhe‘ in Hongkong zu sorgen, die Demokratiebewegung dort zu zerschlagen - auch um den Preis, dass in Taiwan auch dem Letzten klar ist, dass dieses System gescheitert ist, dass das Versprechen `Ein Land, zwei Systeme‘ nicht mal in Hongkong funktioniert. Es ist nichts, worauf man sich in Taiwan irgendwie verlassen könnte. Taiwan bestimmt seit ungefähr 30 Jahren demokratisch seine eigene Regierung. Es möchte einen eigenen Weg wählen, sein eigenes Schicksal selbst bestimmen. In einem freien System, das persönliche Freiheiten garantiert. Das wollen die Taiwaner nicht aufgeben. Wenn das bedeutet, dass man weiter an dem Namen Republik China festhalten muss, ist es für die meisten Menschen akzeptabel, solange sie das, was sie im Moment haben, nicht aufgeben müssen. Das ist aus Sicht der Taiwaner der Status quo, den sie bewahren möchten. Dieser Status quo ist aber nicht statisch, dazu gehört auch die andere Seite. China unter Xi Jinping, der seit 2012 an der Macht ist, zeigt immer deutlicher, dass es nicht bereit ist, weiter hinzunehmen, dass Taiwan eben nicht unter Oberhoheit von Peking steht, sondern de facto wie ein autonomer Staat handelt und funktioniert. Taiwan war seit Jahren in den Medien kein großes Thema. Mittlerweile hat es zwar mehr Aufmerksamkeit, aber trotzdem ist das Verständnis noch nicht gewachsen.

 

War die Wahrnehmung von Taiwan in Deutschland ein Beweggrund, dieses Buch zu schreiben?

 

In Taiwan konnte ich immer wieder über alle möglichen interessanten Geschichten berichten. Doch im Allgemeinen war das Interesse an Taiwan in Deutschland damals recht begrenzt. Die meisten Redaktionen bemerkten nicht, wie wichtig Taiwan ist. Uns vor Ort war das klar, einigen Medien in den USA auch, aber hier in Deutschland hatten die Leute das Thema einfach nicht auf dem Schirm. Die Konflikte wurden zu dieser Zeit von den Regierungen in Peking und Taipeh unter den Teppich gekehrt. Dort sind sie geblieben und nicht gelöst worden. Als Xi Jinping an die Macht kam, hatte er eine ganz andere Vorstellung davon, wie China weltpolitisch agieren sollte. Und die Taiwaner haben seit 2016 eine Regierung, die nicht mehr bereit ist, ihre gewachsene Identität nach außen hin zu verleugnen. So kam es zu der Situation, die wir heute haben. Der Konflikt ist nun offen zutage getreten. China hat damit begonnen, immer unverhohlener zu drohen und mit Militärmanövern eine Blockade oder sogar die Invasion der Insel zu üben. Das passierte in einer Zeit, in der auch der Ukrainekrieg ausbrach. Damit wurde auch dem Letzten bei uns plötzlich klar, dass solche Konflikte tatsächlich eskalieren können. Es ist nicht nur ein Hirngespinst, sondern eine ganz konkrete Gefahr. So wurde Taiwan plötzlich auch in Deutschland ein großes Medienthema. Allerdings fast immer nur mit dem Fokus auf Kriegsgefahr. Gibt es Krieg? Ja? Nein? Haben die Taiwaner Angst? Ja. Wenn ja, wie viel? Wenn nein, warum nicht? Es gibt jetzt mehr Aufmerksamkeit. Aber sie verengt sich sehr auf diese Konfliktfrage.

 

Wie mit Russland in der Ukraine, oder beim Thema Israel/Palästina.

 

Mit gestiegener Aufmerksamkeit ist aber noch nicht mehr Verständnis erreicht. Um die Hintergründe wirklich zu verstehen, warum wir dort sind, wo wir jetzt sind, ist es nötig, diese Hintergründe und Zusammenhänge auch zu erklären. Das kommt meiner Meinung nach leider immer noch zu kurz. Deswegen war ich auch froh, dass ich die Gelegenheit hatte, in diesem Buch weiter auszuholen und die Zusammenhänge zu erklären, die in der kurzatmigen Aktualitätsberichterstattung unter den Tisch fallen. Wahrscheinlich kennen die Leser das genauso mit der Ukraine oder dem Nahostkonflikt. Es wird meist nur die neueste Umdrehung gezeigt, was gerade Schlimmes passiert ist. Daher sind Podcasts beliebt, oder in einigen Printmedien lange Dossiers und Reportagen. Deswegen gucken sich Leute sechsteilige Netflix-Dokumentationen über historische Themen an. Immer mehr Menschen bemerken, dass die Nachrichten zwar erzählen, was aktuell gerade am dramatischsten in der Welt passiert. Doch sie tragen nicht zum Verständnis bei, warum das so ist. Wie es weitergehen könnte, oder was zu berücksichtigen wäre, um eine Lösung zu finden. Dieses Bedürfnis kann der Nachrichtenjournalismus nicht bedienen.

 

War das der Grund, ein Buch über Taiwan zu planen? Wie haben Sie einen Verlag gefunden?

 

Die meisten Berichte haben eine zeitliche oder eine Platzbeschränkung. Man muss sich immer auf das Aktuelle konzentrieren. Die ganzen Hintergründe musste ich mir selbst aneignen, um wirklich zu verstehen, was da passiert. Sie fanden aber keinen Platz in der aktuellen Berichterstattung. Oder ich konnte sie nur ganz kurz anreißen, ohne sie so zu erklären, wie es eigentlich nötig wäre - um ein echtes Verständnis dafür zu gewinnen, was passiert und warum. Den Gedanken, eigentlich müsste ich darüber mal ein Buch schreiben, hatte ich bereits eine ganze Zeit im Hinterkopf. Doch der letzte Anstoß hatte gefehlt, da ich keine Erfahrung als Buchautor hatte. Das bedeutet ja auch einen großen Aufwand. Deswegen war ich froh, als der Herder-Verlag sich bei mir meldete. Er wurde auf mich aufmerksam, weil ich als `Taiwanreporter´ im Netz präsent bin und gefunden werde, wenn jemand in Deutschland nach Taiwan sucht.

 

Man hat ihnen den Auftrag gegeben, das zu machen, was Sie eh schon immer machen wollten…

 

Genau, man hat bei mir im Prinzip offene Türen eingerannt.

 

 

Wie lange hat die Arbeit an dem Buch gedauert?

 

Das tatsächliche Schreiben etwas über ein halbes Jahr. Ich habe mir als erstes eine Kapitelstruktur überlegt. Als es dann ans Schreiben ging, wusste ich, ich muss ungefähr jede Woche ein Kapitel zu Papier bringen. Das hat auch funktioniert.

 

Wann haben Sie mit dem Buch, mit dem ersten Kapitel, begonnen?

 

Im Herbst des vergangenen Jahres.

 

Gab es eine Deadline?

 

Abgabe des Manuskripts war im März.

 

Haben Sie `einfach´ drauflos geschrieben, bis alles fertig war, und sind so auf die 240 Seiten gekommen?

 

Nein. Der Verlag hat mir das als Vorgabe gemacht. Beim Schreiben musste ich dann schauen, dass mein Text nicht ausufert: Wie viele Kapitel brauche ich noch, wie viele Zeichen habe ich noch übrig.

 

Wie viele Zeichen sind es geworden?

 

Insgesamt fast 500.000 Zeichen.

 

Danke für das Gespräch.

 

Klaus Bardenhagen liest am 25. Juli in Bremervörde (Ludwig-Harms-Haus; 19.30 Uhr – Buchungen unter 04761-921511) aus seinem Buch „Die wichtigste Insel der Welt“.