Essay: Weniger Gemoser, mehr Spaltung  

Patrick Viol 806

Zum 1. Mai bestimmt Patrick Viol in seinem Essay das demokratische Menschenbild  im marxschen Kritikbegriff und zeigt auf, welcher Bedrohung es ausgesetzt ist.

Schrieb mit siner Kritik der politischen Ökonomie eine der weitreichendsten Kritiken der europäischen Geistesgeschichte: Karl Marx.

Schrieb mit siner Kritik der politischen Ökonomie eine der weitreichendsten Kritiken der europäischen Geistesgeschichte: Karl Marx.

Bild: Robert Diedrichs, 1970.

Ein bisschen Tradition zum ersten Mai: Kritik ist „keine Leidenschaft des Kopfes. Sie ist der Kopf der Leidenschaft.“  - Dieses Zitat von Karl Marx aus der Einleitung zu seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie ist zum einen eine dialektische Bestimmung des Kritikbegriffs. Zum anderen steht es ein für ein aufgeklärtes Menschenbild, das zum Schaden der Demokratie aktuell von vielen Seiten angegriffen wird. Aber eins nach dem anderen.

Kritik ist dem Zitat nach nicht das, was heute vornehmlich unter dem Begriff Meinungsfreiheit sein Unwesen treibt: Sie ist nicht der vernunftlose, das heißt unreflektierte und deshalb umso erregtere Ausdruck dessen, was man zu gesellschaftspolitischen Sachverhalten oder Geschehnissen empfindet. Kurz: Kritik ist kein Gemoser; der Kopf, die Vernunft also, nicht bloß Übersetzer gefühlten Unmuts in Worte. Was nicht bedeutet, dass diese Worte nicht ihr Recht hätten und nicht jederzeit frei ausgesprochen werden dürften. Aber sie sagen in erster Linie etwas über das sie aussprechende Subjekt und nichts Verbindliches über die Sache, welche es mit den Worten zu kritisieren meint. Denn: Was Unmut verursacht, kann trotzdem richtig, was erfreut, kann falsch sein. Weil z. B. die Kritik der Religion religiöse Gefühle verletzt, ist die Kritik an Religion nicht falsch. Hätten die Denker:innen der Aufklärung in ihrer Philosophie auf religiöse Gefühle der Bevölkerung Rücksicht genommen, so hätte es der Gedanke der Autonomie schwerlich in die Welt geschafft und gesellschaftlichen Fortschritt und Demokratie hätte es nicht gegeben. Deshalb sagt Marx auch: Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.

 

Der Kopf der Leidenschaft

 

Gleichzeitig ist Kritik als Kopf der Leidenschaft aber keine Leistung der reinen Vernunft, die sich blind und spröde gegen Unmut und Leid gemacht hat. Sie hat diese in unserer leiblichen Verletzlichkeit gründenden emotionale Dimension vielmehr zur ihrer Grundlage.

Bevor Kritik aber geäußert wird und damit sie etwas Wahres über Gesellschaft und Politik aussagen kann, muss ihre emotionale Grundlage begrifflich vom Subjekt, d. h. mit Erkenntnissen über sich selbst, von Gesellschaft und Politik durchdrungen werden. Durch solcherart Reflexion könnte vom subjektiven Unmut über eine Sache zu ihrer objektiven Negativität vorgedrungen werden. Damit erhielte der Unmut nachträglich auch seine objektive Berechtigung und träfe seinen Gegenstand. 

Wer hingegen z. B. wütend auf „die da oben“ ist, auf eine begriffliche Durchdringung seiner Wut jedoch verzichtet, der landet nicht selten beim Antisemitismus. Derjenige aber, der sie am Begriff der Gesellschaft samt ihrer uns alle betreffenden Produktionsbedingungen reflektiert, könnte verstehen, dass nicht „die da oben“, sondern die Organisation unserer Arbeit das Problem ist, das zu Leid, Wut, Ohnmacht und Resignation führt. - Kritik hebt Wut in sich auf. Wer wütend ist, denkt nicht.

 

Der Spiegel für Courage

 

Das heißt: Kritik hat zu ihrer Voraussetzung, dass sich das Subjekt - wie Kant es in seinen beiden berühmten Kritiken getan hat - selbst zum kritischen Gegenstand macht - Kritik ist ohne ein sich selbst spaltendes Subjekt nicht zu haben. Sie ist das Geschäft der Spaltung. Das heißt zugleich: Kritik hat Menschen als Gefühls- und Vernunftwesen zu betrachten und sie vor allem also solche anzusprechen. Also als Wesen, die die Fähigkeit besitzen, von sich Abstand zu nehmen und mehr auszudrücken und mehr zu erkennen als sie unmittelbar fühlen, sehen und erfahren haben. Auch dann, wenn sie sich faktisch wie Idioten aufführen. Kritik hält den Menschen vom Standpunkt ihrer Möglichkeiten den Spiegel vor, in der Hoffnung, dass sie vor sich selbst erschrecken und dadurch „Courage“ finden, wie es auch bei Marx heißt.

Wer die Menschen dagegen als eindimensionale, in ihrem Denken von ihrer Emotionalität beherrschte Wesen darstellt und anspricht und sie in ihrem unmittelbaren Sosein bestätigt; wer sie - wie es überall heißt - „mitnimmt“, wo sie stehen und wie sie durch den Druck der Verhältnisse geworden sind, betreibt nicht nur das Geschäft von Boulevardzeitungen, Populisten und Demagogen. Er befeuert zudem die durch gesellschaftliche Ohnmacht bedingte Verkümmerung der Vernunft und gefährdet damit die Demokratie, da Kritik ihr Integral ist, die auf das sich zur Reflexion selbst spaltende Subjekt angewiesen ist. Deswegen gibt es in George Orwells 1984 keine Stifte - damit die Menschen ihre Gedanken und Gefühle nicht zum Gegenstand bewusster Reflexion machen.

 

Döpfner und die letzte Generation

 

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich z. B. die „Enthüllungsgeschichte“ über Springers Verleger Mathias Döpfner und die Kritik an der Letzten Generation in einem anderen Licht. Wer wie die Zeit-Journalisten Cathrin Gilbert und Holger Stark ohne Kontext, ohne Antworten der Empfänger und ohne Abgleich mit öffentlichen Äußerungen private, wütende, polemische - letztlich emotionale Nachrichten als „Einblick in die Führung von Europas gewichtigstem Verlag - und in Döpfners Gedankenwelt“ verkauft; wer - stellvertretend für viele - wie Ute Heller in den Tagesthemen, die Letzte Generation mit dem Argument kritisiert, ihre Aktionen schadeten dem Klimaschutz, weil sich die Menschen durch die Wut auf Stauverursacher:innen vom Klimaschutz abwendeten, der betreibt nicht nur Erregungsjournalismus, weil er die Menschen eindimensional darstellt und anspricht. Er verbreitet nebenbei das antidemokratische Bild von Menschen, die in ihrer Emotion aufgehen und letztlich zu dumm oder zu „bösartig“ (S. Reinecke in der taz zu Döpfner) für die Welt seien, als eine Selbstverständlichkeit - im Modus der Besorgnis um die Demokratie natürlich. - Deutsche Zustände 2023.

 

geändert 29. April