Immun gegen Differenzierung

Finn Gölitzer 84

Die politische Linke hält sich für fortschrittlich. Geht es um Israel und Antisemitismus beweist sie aber immer wieder, wie hängengeblieben sie ist, kommentiert Finn Gölitzer.

Ein Poster von heute mit einem Weltbild aus den 60er Jahren. In Bremen gesehen, ähnliche Sticker finden sich auch in OHZ.

Ein Poster von heute mit einem Weltbild aus den 60er Jahren. In Bremen gesehen, ähnliche Sticker finden sich auch in OHZ.

Bild: Pvio

Als vor einem Jahr in Israel mehr als 1200 Menschen von der Hamas ermordet und über 200 Geiseln entführt wurden, kam es in fast allen deutschen Großstädten zu Demonstrationen und Solidaritätskundgebungen. Während sich unterschiedlichste zivilgesellschaftliche und parteipolitische Organisationen daran beteiligten und das antisemitische Massaker klar verurteilten, versanken viele linke Kräfte in internen Richtungsstreitereien. Erst Ende Oktober kam es zu einer öffentlichen Erklärung von den damaligen Vorsitzenden der Partei „Die Linke“, Janine Wissler und Martin Schirdewan, in dem zwar der Terror der Hamas kritisiert, aber mit keinem Wort die Rolle des Antisemitismus thematisiert wurde.

Die Abwesenheit einer adäquaten Antisemitismuskritik ist symptomatisch für viele linke Positionen zum Nahostkonflikt. Dabei wird er von den Feinden Israels ganz offen propagiert. Beispielsweise ruft die Hamas in ihrer Charta von 1988 wortwörtlich zum „Kampf gegen die Juden“ auf. Es ist also kein Geheimnis, dass der Krieg gegen Israel in weiten Teilen durch einen eliminatorischen Antisemitismus motiviert ist. Dieser Aspekt wird in Analysen des gesamten politischen Spektrums gerne ignoriert. Im Falle der Linken fällt dies aber besonders auf, geht es ihr doch eigentlich um die Kritik von jeglichen reaktionären Ideologien.

Zurückzuführen ist die Abwesenheit einer Antisemitismuskritik unter anderem auf die Durchsetzung des antiimperialistischen Weltbildes ab den späten 1960er-Jahren in der (west)deutschen Linken. Israel wurde hier zunehmend als imperialistisches Kolonialprojekt angesehen und die Gegner des jüdischen Staates unhinterfragt zum politischen Bezugspunkt erhoben. Mit der historischen Wirklichkeit hatte diese Interpretation des Nahostkonflikts jedoch von Beginn an wenig zu tun. Denn die europäischen Juden, die als Verfolgte in das britische Mandatsgebiet Palästina fliehen mussten, hatten keinen Nationalstaat, für den sie das Land hätten kolonialisieren können. Der Zionismus - der die Etablierung eines jüdischen Staates zum Ziel hatte - war weder eine imperiale Macht, noch hatte er die Möglichkeit, ein fremdes Territorium für sein Kernland auszubeuten. Und die Beziehung zum britischen Empire war weitaus widersprüchlicher, als dass man von Großbritannien als dem „kolonialen Mutterland“ der zionistischen Einwanderer hätte sprechen können. Diese und viele weitere Tatsachen sperren sich gegen den Vorwurf des Kolonialismus. Ungeachtet dessen blieb das antiimperialistische Weltbild gegen jede Differenzierung immun.

Hingegen versprach es ein einfaches Interpretationsmuster, in dem das politische Subjekt und das feindliche Objekt klar zu bestimmen waren. So sind die Erklärungsmuster des Antiimperialismus bis heute weit verbreitet. Die Tatsache, dass viele Linke Schwierigkeiten hatten, das antisemitische Massaker vom siebten Oktober als solches zu benennen und zu kritisieren, zeugt davon.

Ein Jahr danach hat sich an diesem Zustand nicht viel geändert. Nichtsdestotrotz gibt es ein paar linke Initiativen, die anlässlich des Jahrestages vom siebten Oktober auf die wachsende Gefahr des Antisemitismus aufmerksam machen wollen und gegen Antizionismus und Antisemitismus auf die Straße gehen. Mit dieser Haltung ist man innerhalb der Linken aber bis heute leider eine Minderheit.