Kommentar: Das Schauspiel der wiedergutgewordenen Deutschen 

Lara Komorowski 627

Lara Komorowski hinterfragt den Charakter der Massenproteste gegen die AfD aufgrund der Form der Correctiv Berichterstattung.

Im Potsdamer Landhotel Adlon haben sich im November 2023 AFD-Funktionäre, Rechtsextremisten, Burschenschafter, dazu Bürgertum und Mittelstand, Juristen, Politikerinnen, Unternehmer, Ärzte und zwei CDU-Mitglieder – Mitglieder der Werteunion“ – getroffen und über ihre vulgären Zukunftsvisionen beratschlagt. Am 10. Januar veröffentlichte die Plattform Correctiv.org unter dem Titel „Neue Rechte: Geheimplan gegen Deutschland“ ihre Recherche-Ergebnisse zu diesem Treffen. Eine Woche später wurden die Inhalte außerdem in Form einer „Szenischen Lesung“ im Berliner Ensemble auf die Bühne gebracht. Angeschlagen wurde ein Modus, der den baldigen „Umschlag in die Barbarei“ beschwört. Dabei ist seit der Gründung der AfD im Jahr 2014 hinlänglich bekannt, dass derartige Treffen stattfinden, die braune Partei mit blauem Anstrich als ein demokratisch legitimiertes Sammelbecken der extremen Rechten fungiert und die Schnittstelle zwischen konservativem Bürgertum und Rechtsterroristen bildet. Als Führungsfigur tritt seit einigen Jahren ein Nazi in Slim-Fit Anzug auf, der sich öffentlich auf die SA bezieht, völkischen Nationalismus vertritt und als Teil der internationalen extremen Rechten Antimodernismus und Geschichtsrevisionismus propagiert.

Aber erst seit der Veröffentlichung durch Correctiv.org gehen mehrere zehntausende im Bundesgebiet demonstrieren. Von Rostock bis Ansbach wird sich gegen „das Erstarken der AFD“ und die „sich wiederholende Geschichte“ positioniert.

Warum jetzt und so viele? Das einzig Neue ist die Form der Berichterstattung: die Enthüllung von Geheimplänen. Und die verleiht den Protesten im post-Shoa Deutschland einen mehr als fragwürdigen Charakter. Die zum Spektakel orchestrierte Berichterstattung bedient ein zentrales Element des klassischen antisemitischen Weltbildes der Moderne. Genährt werden die Vorstellungen von einer Verschwörung „hinter den Kulissen“, geschürt die Ängste vor „geheimen Machenschaften einiger weniger“. Eine derartige "Enthüllung" ermöglicht zum einen eine Entladung von Erleichterung und Empörung gleichermaßen: Denn von dem „Geheimplan gegen Deutschland“ haben die wiedergutgewordenen Deutschen bisher nichts gewusst. Die Inszenierung à la Brechtsches Lehrstück von Correctiv lässt hinlänglich bekannte Tatsachen als gänzlich neue Wahrheiten erscheinen und die bundesdeutsche Zivilgesellschaft nimmt das die eigene Ignoranz gegenüber der Realität entschuldigende Deutungsangebot dankend an.

Zum anderen liefert die Erzählung vom Geheimplan den wiedergutgewordenen Deutschen das Skript dafür, sich selbst das von der Geschichte entlastende Schauspiel aufzuführen, dass sie anders als die Großeltern gehandelt und zu den Guten gehört hätten (wie man es auf einigen Demo-Plakaten lesen konnte). Dabei schöpft die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihr Mobilisierungspotential einmal mehr aus den Kontinuitäten der nationalsozialistischen Ideologie. Die von dieser Ideologie und den zugehörigen extrem rechten Netzwerken ausgehenden Gefahr ist jüdischen Menschen, Migranten und Personen, die öffentlich für eine plurale Gesellschaft eintreten, allerdings seit 1945 bekannt.