Kommentar: Der ehrbare Antisemitismus
„Das klassische Phänomen des Antisemitismus nimmt aktuelle Gestalt an.“ Mit diesen Worten begann der jüdische Intellektuelle und Holocaust-Überlebende Jean Améry im Jahr 1969 sein Essay „Der ehrbare Antisemitismus“. Was Améry folgend festhielt waren seine Eindrücke, die er nach dem israelisch-arabischen Sechstagekrieg von 1967, aus dem die israelische Armee siegreich hervorgegangen war, sammelte: Deutsche Linke entdeckten damals im israelischen Soldaten den Unterdrücker, der „mit dem ehernen Tritt römischer Legionen friedliches palästinensisches Land zerstampft“, wie Améry kommentierte.
Zu Ende war es mit den Schuldgefühlen gegenüber den Jüdinnen und Juden, welche man als Deutscher nach dem Holocaust mehr oder weniger hegte. Es wurde aufgeatmet in Deutschland, denn nun galt es den noch jungen Staat Israel und den Zionismus wahlweise als Brückenkopf des Imperialismus oder Verbrecherstaat zu demystifizieren, also Antizionist zu sein. Améry sah hierin einen „ehrbaren Antisemitismus“: Antisemitismus, weil sich die inhärente Todesdrohung gegen Jüdinnen und Juden im Antizionismus als gleiche entpuppt. Und ehrbar, weil der Antizionist wieder reinen Gewissens sein kann: Man verortet sich auf der richtigen Seite der Geschichte - als Kämpfer gegen Imperialismus, Faschismus, Krieg und schlussendlich gegen den Zionismus. Der Antizionismus überträgt den alten Judenhass somit auf den weltweit einzigen jüdischen Staat: Israel.
Fünfundsiebzig Jahre nach dessen Staatsgründung hat sich an der Aktualität Amérys Schilderung kaum etwas verändert. Davon zeugte zuletzt die Kontroverse um die Kasseler Kunstausstellung „documenta fifteen“. In mehreren der dort gezeigten „Kunstwerke“ fanden sich eindeutig antisemitische Darstellungen, die Jüdinnen und Juden unter anderem als Schweine entmenschlichten. Doch statt zu handeln und die documenta zu beenden, entschlossen sich die Geschäftsführung sowie die Kuratoren der documenta dazu, lieber deutlich zu machen, dass es sich bei den Darstellungen keinesfalls um Antisemitismus, sondern mitunter um berechtigte Kritik an der Politik Israels handeln würde. Dies mag verdeutlichen, dass zwischen Antizionismus und Antisemitismus kaum ein Blatt Papier passt. Und zwar immer dann, wenn Israel und dessen Politik dämonisiert, delegitimiert und mit doppelten Standards bewertet wird.
Tim Stosberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam (FFGI) am Forschungsverbund „Normative Orders“ der Goethe-Universität Frankfurt.