Leitartikel: Radikalisierungsprozesse der Exekutive
Ich mache mir Sorgen wegen rechtsextremer Kräfte „innerhalb“ des hohen Hauses der Demokratie - Wer diesen Satz hört, fragt sich höchstwahrscheinlich nicht: Das ganze Parlament besteht also aus Nazis? Und urteilt ebenso wenig: Das ist ein Angriff auf die Demokratie und den Rechtsstaat.
Im Gegenteil: Die meisten würden denken, Grundschulsemantikkenntnisse vorausgesetzt: Der Sprecher des Satzes sorgt sich um die Demokratie, weil im Parlament neben überzeugten Demokraten auch Rechtsradikale sitzen.
Anders dagegen die Semantikkenntnisse in NRW: Sowohl der Leitung der Polizei-Hochschule Gelsenkirchen, wie dem CDU geführten Innenministerium als auch dem Landesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei gehen die Kenntnisse der Bedeutung des Wortes „innerhalb“ vollständig ab.
Weil Bahar Aslan, Dozentin der genannten Hochschule, auf twitter die beiden Sätze postete: „Ich bekomme mittlerweile Herzrasen, wenn ich oder meine Freund*innen in eine Polizeikontrolle geraten, weil der ganze braune Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden uns Angst macht. Das ist nicht nur meine Realität, sondern die von vielen Menschen in diesem Land“, wurde ihr Lehrauftrag für „Interkulturelle Kompetenz“ nicht verlängert. Die Verlängerung war aber vorgesehen.
Zur Begründung heißt es seitens der Hochschule: Aslan sei aufgrund ihrer Äußerungen „ungeeignet, (...) angehenden Polizistinnen und Polizisten (...) eine vorurteilsfreie, respektive fundierte Sichtweise im Hinblick auf Demokratie, Toleranz und Neutralität zu vermitteln.“ CDU-Innenpolitiker Christos Katzidis sagt im WDR-Gespräch, bei dem Tweet handele es sich um eine „Verunglimpfung“ von Polizeikräften. Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft Michael Mertens meint, es handle sich um eine „Pauschalverurteilung der Sicherheitsbehörden“.
Erschreckender Humbug
Die Nichtverlängerung des Lehrauftrags ist ungeheuer skandalös, und die Begründung von Staat und Polizei, warum sie richtig sei, erschreckender Humbug. Denn Aslans Tweet verunglimpft mitnichten die ganze Polizei. Er sagt nicht mehr, als dass sie vor einer möglichen Konfrontation mit Nazis in Polizeiuniform Angst habe und dass es vielen anderen Menschen auch so geht. Was ist daran falsch?
Nicht nur gibt die ein paar Tage vor ihrem Tweet veröffentlichte Studie zu Polizeigewalt Aslans Angst eine rationale Grundlage, weil sie zum einen aufzeigt, dass oft Migranten von ihr rassistisch betroffen sind und dass sie zum anderen selten geahndet, man sich also nicht wirklich wehren kann, wenn man schlecht behandelt wird. Auch stimmt es, dass es vielen Menschen so geht wie Aslan. Auch mir - ohne Migrationshintergrund - explodiert bei jeder Polizeikontrolle das Herz, eben weil ich in den letzten 15 Jahren bei jeder Begegnung mit der Polizei grundlos respektlos behandelt wurde und jedes Mal die Erfahrung von Ohnmacht machen musste.
Kollateralschaden
Erst letzte Woche hat mir ein Polizist auf dem Weg zu einem Konzert am Bahnhof Hannover für einen „starken Auftritt“ in einem bereits von seinen Kollegen auseinandergetrieben Streit von Jugendlichen - also absolut grundlos - einen so starken Schlag in den Rücken versetzt, dass mein ganzer Arm taub wurde und noch immer schmerzt. Der Polizist wollte, um sich auch einen Jugendlichen zu schnappen, super cool und martialisch durch eine zehn Meter von der Streitszene entfernte Reihe Blumenkübel mit Sitzgelegenheiten springen, nachdem einer der Jugendlichen Polizeigewalt rief, da ein anderer Polizist ein Mädchen der Streitgruppe unnötig brutal zu Boden drückte. Und ich stand wohl - ChickenMcNuggets futternd - im Weg. Pech gehabt. Kollateralschaden aggressiver Männlichkeit in Uniform. Die Dienstnummer, um mich zu beschweren, da ich alles an der Aktion überzogen und unnötig brutal fand, habe ich natürlich nicht bekommen. Ich hätte ewig warten sollen und damit mein Konzert verpassen. Und ja, mir war das Konzert wichtiger als eine Beschwerde über einen Polizisten einzureichen, dem Menschen primär als Material zur aggressiven Selbstversicherung zu gelten scheinen, aus der eh nichts wird. Das heißt: Ich kann Aslans Herzrasen nicht nur verstehen. Als Bürger, der keine guten Erfahrungen mit der Polizei gemacht hat, finde ich es zur Verhinderung von Polizeigewalt, für mein persönliches Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum und für die Realität einer liberalen Gesellschaft unerlässlich, dass Polizisten in ihrer Ausbildung auch von Menschen unterrichtet werden, die negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht und die ein kritisches Bewusstsein gegenüber der Polizei haben. Diese „erzwungene“Auseinandersetzung mit Problemen bei der Polizei wäre nicht nur ein demokratischer Bildungsprozess im emphatischen Sinne, weil er Offenheit für der eigenen Meinung Widersprechendes erforderte. Sie könnte zudem einen kritischen Reflexionsprozess über die Verhältnisse bei der Polizei bei manchen Beamten einsetzen und den gewaltdeckenden Korpsgeist brüchig werden lassen.
Radikalisierung der Exekutive
Aber nichts davon: Nicht nur hat man in NRW mit Aslans Entlassung diese Chance einer demokratischen Bildung von Polizisten vertan. Die Reaktion des Innenministeriums, Aslan wie eine Nestbeschmutzerin zu verstoßen, bezeugt zum einen, dass der Schweinereien deckende Korpsgeist auch unter (Unions)-Politikern virulent zu sein scheint und Aslans Angst auch von politischer Seite her ihre Berichtigung hat. Und zum anderen, dass die Union sich in ihrem unheilvollen Liberalismus mit Populismus verwechselnden Kulturkampf von demokratischer Bildung, die auf (Selbst-)Kritik und der Austragung von Konflikten beruht, zu verabschieden und stattdessen auf Abschottung und Homogenisierung zu setzen scheint. Also auf Bedingungen der Möglichkeit faschistoiden Potenzials. - Grund zur Sorge, dass auf Seiten der Exekutive „Radikalisierungsprozesse“ einsetzen.
Mittel gegen Streetfighter
Dass es auch anders geht, zeigt sich an der Kooperation der Gedenkstätte Lager Sandbostel mit der Polizeidirektion Lüneburg. Dadurch sollen Polizisten sowohl mehr über Rassismus und Antisemitismus erfahren als auch über die dunkle Geschichte der Polizei im Nationalsozialismus.
Ich kann nur hoffen, dass diese Möglichkeit ernsthaft genutzt wird und vor allem Ergebnisse der Täterforschung an junge Polizisten vermittelt werden. Denn gerade an Männern wie Odilo Globocnik, Christian Wirth, Franz Stangel, Franz Reichleitner oder Gottlieb Hering - allesamt Polizisten und freiwillige, eigenverantwortliche und karrieristisch auftrumpfende Endlöser der Judenfrage in den Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt - ließe sich hinterfragen, was die Polizei attraktiv für Menschenverächter macht und welche Dynamiken innerhalb der Polizei ein faschistisches Potenzial produzieren, das ad hoc mobilisiert werden kann, wenn es gebraucht wird. So würden junge Beamten auch mit der Reflexion ihrer eigenen Motivation für den Polizeidienst konfrontiert. Eine solche Selbstreflexion ist nicht nur Grundlage demokratischen Bewusstseins. Sie könnte auch verhindern, dass Polizisten sich in der Öffentlichkeit zum Schaden von Menschen wie verkappte Streetfighter aufführen.