Viel gelernt und nichts begriffen: Der konformistische Charakter der Anti-AfD-Proteste

Patrick Viol 1545

Patrick Viol hat diesseits der Brandmauer gegen rechts Anzeichen entdeckt, die auf ein faschistisches Potenzial hindeuten.

NS-Relativierung gegen rechts ist derzeit in Mode.

NS-Relativierung gegen rechts ist derzeit in Mode.

Bild: adobestock/christian

„Nie wieder ist jetzt“ heißt es auf Demos gegen die AfD. Bei genauerer Betrachtung verrät dieser Ruf aber bei vielen, die ihn auf deutschen Straßen herausposaunen, ein Denken in Klischees und Phrasen, das ihrerseits auf ein faschistisches Potenzial diesseits der Brandmauer gegen rechts hindeutet.- Ein politischer Essay.

 

Mit den Deutschen ist kein Faschismus mehr zu machen - so lassen es die anhaltenden Massendemonstrationen und Reden von „aufrechten Demokratinnen und Demokraten“ im Parlament zumindest erscheinen. Mehr als eine Millionen Menschen sind seit dem Bericht des Recherchenetzwerks Correctiv über ein Treffen von Neonazis und Unternehmern mit Afd- und CDU- Mitgliedern auf die Straße gegangen und tun es weiter. Auch in dieser Woche und an diesem Wochenende bilden Tausende „Hand in Hand“ eine „Brandmauer“ gegen die Gefährder und Spalter von rechts außen, wie es in den Demoaufrufen und Reden heißt. Auf mitgebrachten bunt gestalteten Plakaten will man der AfD demonstrieren, dass man aus der Geschichte gelernt habe und sie daran zu hindern wisse, die Geschichte zu wiederholen. „AfD wählen ist so 1933“. Man selbst werde nicht wie die Urgroßeltern handeln und sich hinter Nazis versammeln - „Jetzt können wir endlich herausfinden, was wir anstelle unserer Urgroßeltern getan hätten“ kann man auf einem im Netz bekanntgewordenen Demoplakat lesen.

Gefeiert wird diese Neuauflage des „Aufstandes der Anständigen“, dessen Uraufführung Gerhard Schröder 2002 parallel zu seinem Anschlag auf den Sozialstaat inszenierte, von Politik und Medien. Bundespräsident und Bundeskanzler, der selbstverständlich bei der ersten großen Demo mitdemonstrierte, sind begeistert und zeigen sich dankbar. Die Deutschen zeigten ihre „Stärke“ und „Menschlichkeit“ und bewiesen, dass sie das Miteinander gegen das Trennende, die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigten, so Steinmeier bei eigentlich jeder Gelegenheit. Der Spiegel titelt: „Die Wehrhaften“ und der Faktencheckerblog „Volksverpetzer“ lässt in Anbetracht des antifaschistischen Erwachens der sogenannten Mitte die Polemik in seinem Namen hinter sich und hält der AfD einen - viral gegangenen - Zusammenschnitt der Demos mit der vom Kanzler stammenden Ansage vor: „DAS ist das Volk, AfD!“. Auch der Deutschlandfunk lobt das „demokratische Selbstbewusstsein“ der Deutschen und der Stern gibt ihnen ein Gesicht: „Von Helene Fischer über Udo Lindenberg bis zum Volkswagen-Chef“ hieße es: „Nicht mit uns!“.

Einen Song zum Unterhaken gibt es mittlerweile auch. Geschrieben hat ihn die Sängerin Soffie. Er läuft in nahezu jedem Demozusammenschnitt auf Instagram und tiktok und heißt „Für immer Frühling“. Darin geht es um Wärme, Herzen und Heimat - um ganz viel Menschlichkeit eben.

 

Zweifel am Zusammenland

 

Von CDU bis Linkspartei, vom Demodebütanten bis zum linksradikalen Dauerdemonstranten wie von der aktivistischen Antirassistin mit „palästinensischen Wurzeln“ bis zum biodeutschen Greenpeace-Mitglied im mittleren Alter ist man sich einig: „Nie wieder ist jetzt“. Das deutsche Volk ist nicht braun, sondern bunt, es ist geeint und „unteilbar“ und das Land, in dem es lebt und demonstriert, heißt fortan „Zusammenland“, wie eine diese Woche auf Initiative der Zeit mit anderen großen Medienhäusern und 500 Firmen gestartete Kampagne es verlautbart. - Vergessen, aber wahrscheinlich nur nie vernommen, ist die Feststellung Max Horheimers: "Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte."

Nun, ich kann in Anbetracht dieses neuen Wirs - dieses gruseligen Hirngespinstes eines „Zusammenlandes“, das realitätsverweigernd keine Klassen, sondern nur noch gute und schlechte Deutsche kennt, den maßgeblich vom postnazistischen Halbbildungsbürgertum getragenen Massenprotesten keinen antifaschistischen Passierschein ausstellen. Auch die Reden, die am 3. Februar vor dem Bundestag vor Tausenden gehalten wurden, machen die Sache nicht besser.

Ich denke zwar nicht wie manch anderer Kritiker der Proteste, dass die Gefahr des völkisch-autoritären Neoliberalismus der AfD und ihr faschistisches Mobilisierungspotenzial zu vernachlässigen und die Aufruhr gegen die AfD reine Massenhysterie sei. Weil eine Kritik schlecht ist, heißt das nicht, dass der kritisierte Gegenstand nicht kritikwürdig ist. Dort, wo die AfD die Politik mitgestalten würde, ginge es armen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund weitaus schlechter als jetzt. Und bereits jetzt geht es den meisten nicht gut.

Die AfD ist eine rassistische Partei von mittelständischen Untertanen, Faschisten, Neonazis, Putinfreunden und von „Globalisten“ und Verschwörungen faselnden Spinnern und gehört bekämpft. Wer sie wählt, ist ein den freien Westen hassender autoritärer Charakter ohne alle Latten am Zaun, dessen kollektiver Narzissmus ihn veranlasst, an die Lüge zu glauben, mit weniger Migranten und „Globalisten“ (Codewort für Juden) im Land würde sein Leben besser.

Ich teile auch manche zentrale Ansichten so mancher Rednerinnen. Auch wenn ich deren postkolonialen Theoriebackground als identitätspolitische Hintertreibung ernst zu nehmender Rassismuskritik und theoretischen Vorhof des Antisemitismus verurteile, ist es unbestritten, dass beispielsweise der Kampf gegen AfD und Rassismus (den man nicht mit Islam-und Integrationskritik verwechseln darf) die Kritik an der Asyl- und Sozialpolitik der Ampel miteinschließen muss. - Kürzlich hat die Bertelsmann Stiftung dargelegt, dass es vor allem die ärmeren Menschen in Deutschland sind, die mit der Ampelpolitik unzufrieden sind und darüber zur AfD abwandern. Scholz ist der Erbe Schröders: Der zweite Aufstand der Anständigen mit all seinen Verlautbarungen von antifaschistischem Zusammenhalt ist wie der erste eine moralische Ausstaffierung einer den Sozialstaat zerrüttenden Politik, die den Armen wie Stalin offen androht: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Hinter dem Engagement gegen rechts verschwinden die eigenen politischen Schweinereien und der sie verzapft erscheint als Saubermann.

 

Klischees und Phrasen

 

Der Grund, warum ich am Charakter der Proteste zweifle, ist, dass es Anzeichen dafür gibt, dass ein faschistisches Potenzial diesseits der Brandmauer existiert. Fest mache ich das daran, dass die Protestler wie ihre politischen und medialen Supporter zum einen in der Überzeugung zusammenkommen, es sei angesichts der Zustimmungen zur AfD und deren Abschiebefantasien angebracht, zu sagen: „Nie wieder ist jetzt“. Und dass sie zudem dieses „Nie wieder“ praktisch nur als ein abstraktes, dem erkalteten Selbst Nestwärme spendendes „Zusammenstehen für die Menschlichkeit“ begreifen. Damit machen sie nicht nur fälschlicherweise aus der AfD eine NSDAP und aus dem sogenannten Geheimtreffen eine Wanseekonferenz 2.0 und betreiben eine NS-Relativierung gegen rechts. Und sie haben damit nicht nur in deutschester Dreistigkeit das Leid und die Bedrohung von Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober zugleich instrumentalisiert wie aus der Öffentlichkeit verdrängt und mal wieder bewiesen, das Deutsche - egal ob rechts oder links - am besten über den Auschluss von Juden zusammenkommen. Darüber hinaus offenbart die Art der Verwendung des ""Nie wieder ist jetzt", dass sie alle - von Steinmeier über Volkswagen und Volksverpetzer bis zur „endlich-ist-der-NS-da-und-wir-können-uns-beweisen-Demonstrantin“ - weder von der Gesellschaft, in der sie leben, noch vom NS und von der vor sich hergetragenen „Lehre aus der Geschichte“ einen Begriff haben. Wie der verhasste, Drosten mit Mengele vergleichende „Coronarebell“ denken und sprechen sie über den NS wie hinsichtlich der Gefahr seiner Wiederholung und der Mittel dagegen vornehmlich in Klischees und Phrasen.

 

Die negative Aufhebung des Kapitals

 

Der NS war nicht - wie die Politiker und Protestler ihren Äußerungen nach zu glauben scheinen, einfach eine rassistisch ausgrenzende Gesellschaft, in der Menschen frei Minderheiten hassen und gegen sie hetzen konnten, was dann automatisch zum Massenmord führte. Ebenso wenig war der NS einfach das böse Gegenteil der bürgerlich-demokratischen Grundordnung, auf welche sich die Anständigen auf den Demos blindwütig einschwören. Und die Lehre aus der Geschichte ist nicht, dass Gemeinschaft und Menschlichkeit Mittel gegen Faschismus und Nationalsozialismus sind. Vielmehr zeigt ein kritischer Blick auf die Kultur des Vorfaschismus, dass das aus Ohnmacht erwachsene Bedürfnis nach Gemeinschaft und der die tatsächliche Spaltung der Menschheit in Klassen ignorierende Kult abstrakter Menschlichkeit in die Bedingungen des Faschismus fallen. Weil beides eine Verdrängung von Ohnmacht und der gespaltenen Menschheit darstellen, an deren Reflexion sich Widerstand hätte bilden können, hat die Kultur von Gemeinschaft und Menschlichkeit, wie es Herbert Marcuse in seinem Aufsatz über den affirmativen Charakter der Kultur ausführt, das Ich verkümmern und empfänglich für autoritäre Kräfte werden lassen. Entsprechend ist die Lehre aus der Geschichte, Verhältnisse zu schaffen, die weder ohnmächtig machen, noch die Menschheit in Herrscher und Beherrschte spalten. Aber, sofern das nicht möglich erscheint, sollte man zumindest auf die Entwicklung von Autonomie setzen, die das Bedürfnis nach Gemeinschaft und die Phrase von Menschlichkeit als regressive Reaktionsbildungen auf eine unmenschliche Welt begreift. Davon, wie von herrschaftsfreien Verhältnissen spricht auf den Demos aber niemand. Man verharrt trotz 300 Jahren Kant in selbst verschuldeter Unmündigkeit, wovon der Rechtsradikalismus nur ein Symptom unter vielen ist.

Der Nationalsozialismus war die barbarische Pazifizierung des offenen Klassenkonflikts der bürgerlichen Gesellschaft. Die Nazis externalisierten und personalisierten den Grund der andauernden Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Gesellschaft im Juden und befriedeten ideologisch den Klassenkonflikt durch dessen Vernichtung. Die antisemitische Vernichtung samt ihrer gesamtgesellschaftlichen, alle Kräfte einfordernden polit-ökonomischen Infrastruktur war Integrations- und Identitätspolitik der Deutschen. Er war ein „Produktionszusammenhang“, um „eine deutsche Bevölkerung in ein deutsches Volk und in eine Volksgemeinschaft zu transformieren“, wie es der Ideologiekritiker und Publizist Joachim Bruhn einst formulierte. Der Begriff des NS ist die negative, das heißt: massenmörderische Aufhebung des Kapitals auf eigener Grundlage. Und jene, die realiter und praktisch seine Erbschaft und die Fortführung der Judenvernichtung angetreten haben, sind nicht die, welche sich realitätsverlustig in Potsdam feuchten Abschiebeträumen hingegeben haben. Es sind die bewaffneten und bestialisch Juden tötenden und Israel vernichten wollenden Antisemiten in Gaza, Iran und Libanon.

 

Das faschistische Potenzial

 

Die Protestler sind aber nicht nur begriffslos. Die Rigidität und die Ernsthaftigkeit mit der sie ihre Klischees und Phrasen in die Welt posaunen und für die Wahrheit halten, deuten auf einen autoritären Charakter hin und damit auf das faschistische Potenzial diesseits der Brandmauer.

Es ist nicht der „Vorurteilsvolle“, sondern der „starr Vorurteilsfreie“, den man hier antrifft. In den „Studien zum autoritären Charakter“ wird er von von Theodor W. Adorno bei Vertretern aller politischen Parteien und Strömungen nachgewiesen. Gefährlich ist er, weil er aufgrund seiner Ichverarmung für faschistische Mobilisierung anfällig sein kann. 

Er fällt wie der „Vorurteilsvolle“ durch „überaus stereotype Züge auf, durch eine Struktur also, bei der die Absenz von Vorurteilen nicht auf konkreter Erfahrung beruht und in der Charakterstruktur integriert ist, sondern aus allgemeinen, äußerlichen ideologischen Formen abgeleitet ist.“ Ausdruck davon ist, dass die starr Vorurteilsfreien „Klischees und Phrasen (kaum weniger benutzen) als ihre politischen Gegner.“ Und wenn sie protestieren, geschieht dies nicht aus Autonomie und kritischer Erkenntnis, sondern aufgrund „konformistischer ‚Korrektheit’“, die bei ihnen als starrer Schematismus das schwach entwickelte Gewissen ersetzt.

Eklatante Symptome dieses auf gesellschaftlich bedingte Ichverarmung zurückgehenden Schematismus der Protestler sind, dass sich positiv auf den Volksbegriff bezogen wird; dass man auf Zuruf des Staates demonstriert und die Gemeinschaftlichkeit feiert. Oder dass es am 3. Februar keinen Aufschrei vor dem Bundestag gab, als eine Sprachnachricht der Gruppe „Jews and Palestinians for Peace“ abgespielt wurde. In der wurde zum einen nicht die Hamas, sondern die israelische Regierung kontrafaktisch als faschistisch bezeichnet. Weiter wurde die Terrorgeschichte der Palästinenser dethematisierend behauptet, Israels Sicherheit sei eine Frage der Freiheit Palästinas, nicht vom eliminatorischen Antisemitismus der Palis oder der Hamas, sondern vom „Besatzer“ Israel. Sowas nennt man Rationalisierung von Antisemitismus. Ein weiteres Symptom ist, dass in Berlin und Frankfurt nahezu ungestört massenhafte Demonstrationen stattfinden können, auf denen eine Blut und Boden Ideologie vertreten wird - nur eben von Palästinensern und ihren linken Unterstützern.

Wer den NS, die Gefahr seiner Wiederholung und Antisemitismus begriffen hat, würde das nicht hinnehmen. Abern weil es um nachholenden Widerstand für ein gutes deutsches Wir geht, findet - wie die meisten auf den Protesten anwesenden Lehrer zu ihren Schülern sagen würden - keine Übertragung des Gelernten statt.

Die sich als die Wiedergutgewordenen präsentierenden Deutschen sind wie der Klassenstreber, der, weil es ihm ums Fortkommen und die Zuneigung der Lehrerschaft geht, nur auswendig lernt, aber nichts begreift. Die Anti-AfD-Deutschen scheinen vielfach angepasste, autoritäre Charaktere zu sein. Sie haben nur ein anderes Feindbild, das zu bekämpfen ihnen - wie der Hass ihrer Gegner auf Migranten - hilft, mit Verhältnissen klar zu kommen, die sie objektiv entmenschlichen.

Was nichts anderes heißt, als dass hier ein faschistisches Potenzial vorhanden ist, gegen das man angehen muss, weil es sonst mit dem notwendigen Antifaschismus der „Gemeinschaft der Demokraten“ nicht weit her ist. Was nichts anderes anzunehmen zwingt, als dass es sich bei den Massenprotesten gegen die AfD - ebenso wie bei deren in die höhe schießenden Umfragewerten - um ein regressives Krisenphänomen: um eine konformistische Revolte zur widersprüchlichen Aussöhnung mit der Macht der Verhältnisse handelt, die den Entstehungsgrund dessen abgibt, was man fürchtet: die Gefahr einer Wiederholung der Geschichte. Was nichts anderes bedeutet, als dass man endlich anfangen sollte, den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus von den Füßen auf den Kopf zu stellen, damit er die Gesellschaft zu einer macht, die keiner Feindbilder mehr bedürftig ist.

 

aktualisierte Version 20. Februar.