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Monika Hahn

Spiegel der Gesellschaft

Auch an Schulen in der Region steigt die Gewaltbereitschaft - wenn auch auf niedrigem Niveau.

Foto: AdobeStock

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Laut Kriminalstatistik ist die Zahl minderjähriger Tatverdächtiger bei Gewaltdelikten rapide angestiegen. Wir haben recherchiert, inwiefern sich das auch auf den Schulhöfen in der Region bemerkbar macht.

Schon vor der offiziellen Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2023 war bekannt geworden: Gegenüber 2022 stieg die Anzahl der ermittelten minderjährigen Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten rapide an. Bei den unter 14-Jährigen um 17 % und bei den Jugendlichen bis 18 Jahre um 14,4, %. Schnell wurde daraus die Schlagzeile: Gewalt an Schulen steigt rasant. Doch wie groß ist das Problem in der Region wirklich?

 

Konflikte an Schulen in der Region

 

Die PKS gibt zwar Auskunft über die Arten der Delikte, über die Opfer und über die zeitliche Entwicklung, die Datenauswertung auf Landkreisebene wird jedoch erst im Mai veröffentlicht. Auch gibt es derzeit keine Statistik über den Tatort. Es liegt also lediglich der Verdacht nahe, dass auch insbesondere die Gewalt auf deutschen Schulhöfen stark zugenommen haben könnte. Welchen Anteil haben gewaltvoll ausgetragene Konflikte an den Schulen der Region tatsächlich? Können sich die Schüler:innen sicher an ihrer Schule fühlen?

Auf konkrete Nachfrage äußert sich Stefan Dilbat, Schulleiterstellvertreter der IGS in Osterholz-Scharmbeck, beruhigend: „An unserer Schule sind Gewaltvorfälle sehr selten. Wir setzen uns aktiv für ein respektvolles und gewaltfreies Miteinander ein“, und weiter: „Typische Situationen, die gewalttätigen Konflikten vorausgehen könnten, werden bei uns frühzeitig erkannt und häufig konstruktiv gelöst.“

Ingmar Schultz, kommissarischer Konrektor der Findorff-Realschule in Bremervörde, bestätigt hingegen die Statistik. Man habe eine Zunahme von gewalttätigen Auseinandersetzungen beobachten können, aber inzwischen wirksam gegengesteuert.

 

Die Hemmschwelle sinkt

 

Auch am Gymnasium in Lilienthal beobachtet man das Sinken der Hemmschwelle zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, jedoch insgesamt auf niedrigem Niveau.

Das Regionale Landesamt für Schule und Bildung in Lüneburg (RLSB) gibt bekannt, dass die Schulen keine statistischen Daten zu Gewaltdelikten erhöben. In Bezug auf die berufsbildenden Schulen in der Region könne eine Gewaltzunahme nicht beobachtet werden. Körperliche und verbale Übergriffe kämen vor, über den Gebrauch von Waffen habe man keine Kenntnis. Eskalierende Konflikte beobachte des Landesamt ausschließlich innerhalb der Schüler:innenschaft und nicht gegenüber Lehrkräften.

Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissen (GEW), Stefan Störmer erklärt: „Wir haben rund 3.000 Schulen im Land und die Opferzahlen sind um rund 600 Fälle angestiegen. Was dabei bisher aber nicht bekannt ist, ob hierbei eine regionale Häufung vorliegt oder ob wir bereits von einem flächendeckenden Phänomen sprechen.“ Der Bildungsexperte plädiert für eine Differenzierung.„Wenn wir uns die Bildungsquartiere ganz genau angucken, stellen wir fest, dass oft dort, wo es zu Häufungen kommt, extrem wenige Angebote für Kinder und Jugendliche vorhanden sind. Es ist wichtig, nicht nur auf Schule zu gucken“, so Störmer.

 

Mehr „massive Gewalt“

 

Der Landeselternrat erhebt ebenfalls keine statistischen Daten und weist daraufhin, dass üblicherweise erst Fälle auf sehr hoher Eskalationsstufe bis zur Vertretung der Elternschaft durchdrängen. Insgesamt gäbe es landesweit solche Fälle auf quantitativ niedrigem Niveau und keine Schulform sei davon ausgenommen. Die Qualität der Fälle, bei denen der Gewalteinsatz teils massiv wäre, habe jedoch zugenommen. „Wie es auch in der Gesellschaft insgesamt zu beobachten ist, hat auch die Gewaltbereitschaft unter Minderjährigen zugenommen. Frühere Schüler:innengenerationen waren eher bereit, kleinere Grenzüberschreitungen hinzunehmen oder das Gespräch zu suchen“, so der Vorsitzende der Landeselternrats, Michael Guder.

 

Risikofaktoren

 

Die steigende Zahl Tatverdächtiger Minderjähriger erklärt die PKS mit besonderen Risikofaktoren bei Minderjährigen. „Jugendliche haben eine entwicklungsbedingt größere Neigung, gegen Normen zu verstoßen (…). Mit den wegfallenden Covid-bedingten Einschränkungen entfalten diejenigen Faktoren, die derzeit das Kriminalitätsaufkommen insgesamt steigen lassen, bei Jugendlichen eine möglicherweise besonders deutliche Wirkung. Kinder und Jugendliche waren von den Covid-bedingten Einschränkungen in besonderem Maße betroffen. Aktuelle Studien zeigen, dass die psychischen Belastungen zum Teil auch nach Beendigung der Maßnahmen weiter Bestand haben.“

 

Mangelnde Konfliktlösungskompetenz

 

Michael Guder vom Landeselternrat beschreibt mangelnde Konfliktlösungskompetenz in der Gesamtgesellschaft als Problem. Auch er macht insbesondere die Auswirkungen der Corona-Lockdowns und des Distanzunterrichts als mitursächlich aus. „Wir erleben, dass sich während dieser langen Zeit ohne Sozialkontakte bereits erworbene Fähigkeiten zur Konfliktlösung wieder zurückgebildet haben und nicht ausreichend trainiert werden konnten. Die Konfrontation der Schulen mit traumatisierten Jugendlichen ist eine neue Erfahrung, welche zusätzliches Konfliktpotenzial mitbringt“, so Guder.

Gewaltvideos auf dem Smartphone

Dr. Denis Ugurcu, Schulleiter des Gymnasiums in Lilienthal, sieht einen „gewichtigen Grund“ in der Verfügbarkeit und Nutzung von Social Media über Smartphones. „Dieser ständige Konsum von gewaltverherrlichenden Videos verschiebt die Wertmaßstäbe über das, was als normal angesehen wird. Als Folge sehen wir steigende Gewaltbereitschaft. Wir dürfen die Technik nicht verteufeln, aber wir müssen Antworten finden“, so Ugurcu.

 

Prävention

 

Zur Prävention gibt es in den Schulen laut RLSB Lüneburg unter anderem die folgenden Maßnahmen: Die Schulsozialarbeit, die Etablierung fester Ansprechpersonen für alle Schüler:innen sowie ein Beziehungslehrkräfteteam, die Implementierung von Präventionskonzepten inklusive Krisenpräventionsteams. Hinzu kämen noch zahlreiche Projekte und Programme, die das Kultusministerium durchführe.

Die Schulen im Landkreis arbeiten alle präventiv, teils mit eigenen Präventionskonzepten. Die IGS in Osterholz-Scharmbeck verwendet nach eigenen Angaben bereits „erhebliche Ressourcen“ und führe unter anderem erfolgreich Konfliktlösungstrainings durch. Auch das Gymnasium in Lilienthal richtet sein Präventionskonzept derzeit neu aus und plant die personelle Aufstockung des Präventionsteams. Die Findorff-Realschule in Bremervörde führt Präventionsprogramme zu Themen wie Mobbing und Alkoholmissbrauch durch und hat ein eigenes Krisenteam eingesetzt, in dem auch die Schulsozialarbeit integriert ist. Darüber hinaus ist die Schulleitung in einem lokalen Gremium bestehend aus allen Schulleitungen, der Polizei, dem Präventionsrat und den örtlichen Behörden vernetzt und tauscht sich unter Wahrung des Datenschutzes über Vorkommnisse aus. „Bis vor etwa einem dreiviertel Jahr konnten auch wir die Zunahme krimineller Handlungen unter Minderjährigen beobachten. Aber seitdem greift unsere Vereinbarung mit der Polizei, die nun deutlich mehr Streife vor unserer Schule fährt. Außerdem zeigen wir als Schule kriminelle Handlungen sofort an, nachdem wir darüber Kenntnis erhalten und warten nicht darauf, dass diese Initiative von den Opfern ausgeht“, so Ingmar Schultz.

 

Präventionskonzepte sind zu wenig bekannt

 

Michael Guder verweist auf das Vorhandensein guter Präventionskonzepte. Dazu gehöre auch, Lehrkräfte und Eltern darin zu schulen, wie sie mit Kindern und Jugendlichen zu Konfliktlösungskompetenz arbeiten können. Der Landespräventionsrat biete da viel Unterstützung. Leider seien die Konzepte aber zu wenig bekannt in den Schulen und würden zu selten genutzt. Die gezielte Schulung der Fachkräfte und Aufklärung über vorhandene Hilfestellungen im Bereich Konfliktmanagement – ggf. auch während der Ferien – hält Guder für wichtig. Um die dafür notwendigen personellen Ressourcen freizusetzen helfe eine Entbürokratisierung von Schule und eine auch von Technik gestützte Entlastung der Fachkräfte. Dazu wiederum sei die Bereitschaft der Lehr- und Fachkräfte zur Fortbildung auch außerhalb der Unterrichtszeiten unerlässlich, die Guder jedoch zu selten erlebe.

 

Vernetzen und im Gespräch bleiben

 

Die Frage, wie viel Schule als ein Spiegelbild der Gesellschaft über die Resilienz und Streitkultur auch von Erwachsenen aussagt, liegt auf der Hand. Noch sind die Zahlen gewaltvoller Handlungen in den Schulen der Region niedrig, jedoch steigt die Brutalität. Erfolgreiche Präventionskonzepte zeigen aber, dass eine Vernetzung der Akteure und Angebote, Aufklärung und Bildung sowie die Gelegenheit in angenehmem Umfeld miteinander ins Gespräch zu kommen echte Chancen bieten, dem negativen Trend entgegenzuwirken. Und das gilt nicht nur für die Schule, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen.


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