Pascal Beck

Bewusst destruktiv

Vor 50 Jahren entstand mit Punk eine Musikkultur, die Unbehagen am erbärmlichen Alltag und Freude an der Provokation ausdrückte. Heute hat der Skandal sich längst abgenutzt und der Punker wurde zum braven Bürger mit Dosenbier.

Die „Antithese zur Menschheit“: Sänger Johnny Rotten und Gitarrist Steve Jones von den Sex Pistols.

Die „Antithese zur Menschheit“: Sänger Johnny Rotten und Gitarrist Steve Jones von den Sex Pistols.

Bild: Koen Suyk; Nationaal Archief,wiki commons

„Anstößig, obszön und ekelhaft“ - Bernard Brooke Patridge, von 1977 bis 1979 Kulturobmann der Londoner Senatsverwaltung, hatte eine klare Meinung zu den Sex Pistols: für ihn war die britische Punkband die „Antithese zur Menschheit“. Seine Ablehnung ging sogar so weit, dass er der Musikgruppe den „plötzlichen Tod“ wünschte. Bis dahin wollte er zumindest „alles tun, um weitere Pistols-Auftritte in dieser Stadt zu verhindern“.

God Save the Queen

Ihr Debüt hatten die Sex Pistols im November 1975 an der Londoner St. Martins School of Art and Design. Fünfzig Jahre später gilt die Band als stilprägend für die darauffolgende Punkbewegung. Sagenumwoben sind die vielen Skandale, die der Band mitunter Verträge mit zwei großen Major-Labels gekostet haben: Angeblich haben sie am Londoner Heathrow-Flughafen ältere Damen angespuckt und das Londoner Firmenbüro ihres Vertragspartners demoliert.

Bei ihren frühen Konzerten wurden die Sex Pistols regelmäßig ausgepfiffen und sogar angegriffen. Ihr Manager Malcolm McLaren soll die Band anfangs mit Vorliebe in Musikclubs gebucht haben, in denen mit einem feindseligen Publikum zu rechnen war. Ausgerechnet zum silbernen Thronjubiläum der britischen Krone zierte das geschwärzte Gesicht der Queen das Plattencover der Single „God Save the Queen“. Aus Loyalität zum Königshaus, dem die Band ein „faschistisches Regime“ unterstellte, weigerten sich öffentliche Radiostationen den Song zu spielen. Große Händler wollten die Single nicht verkaufen.

Lust an Provokation

England war zu dieser Zeit von sozialen Spannungen geprägt. Punk war die sarkastische Antwort auf den als erbärmlich empfundenen Alltag; ein spontaner Ausdruck eines Unbehagens und die reine Freude an der Provokation. Punk war bewusst destruktiv und verzichtete darauf, einen positiven Gegenentwurf anzubieten.

Der Schriftsteller und Ex-DDR-Punk Henryk Gericke meinte mal, Punk sei der Verlust seines radikalen Anspruchs von Beginn an eingeschrieben. Punk lebt vom Skandal. Die Bands der ersten Generation spielten vermutlich aus Naivität aber auch aus purer Freude an der Provokation mit Nazi-Symbolik; ohne politischen Hintergrund. Der Affront zum Skandal hatte Vorrang. Aber der Skandal nutzt sich irgendwann ab; man gewöhnt sich daran.

Bereits im Frühjahr 1977 soll die französische Nachtclub-Unternehmerin Régine zu einer Punk-Party eingeladen haben, zu der die Superreichen bekleidet mit zerfetzten T-Shirts, Nadeln und Hundeketten auftauchten; ein paar Punks, die ebenfalls mitfeiern wollten, ließ die Gastgeberin hingegen verscheuchen. Im selben Jahr spielte eine Punkband bei der Hochzeit von Loulou de la Falaise, Assistentin des Modemachers Yves Saint Lauren.

Die Momente, in denen Punk auf gesellschaftliche Ablehnung stieß, haben schnell ihren provokativen Charakter verloren. Die kontinuierliche gesellschaftliche Liberalisierung hat Punk zunehmend seine Rahmenbedingungen genommen. Die Lust an Grenzüberschreitung, Konfrontation und Provokation scheint vergangen. Die letzten relevanten Skandale liegen dementsprechend lange zurück.

No Future ist Vergangenheit

Neuerliche Versuche gab es in den vergangenen drei Jahren dennoch. In der Tradition der Chaostage wollten deutsche Punks die Insel Sylt für sich erobern. In den achtziger und neunziger Jahren trafen sich Punks aus ganz Deutschland bei den sogenannten Chaostagen in Hannover, plünderten Supermärkte und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Mobilisierung nach Sylt war erst durch das Neun-Euro-Ticket - in den Folgejahren dann das 49-Euro-Ticket - der Deutschen Bahn möglich.

Beim „Protestcamp für ein solidarisches Miteinander - Klimagerecht und inklusiv in eine gemeinsame Zukunft ohne Gentrifizierung“ auf Sylt haben die Punks sämtliche Auflagen eingehalten: Es gab Sanitäranlagen, Müllcontainer und Ordner mit weißen Armbinden oder Warnwesten. Beim Plenum problematisierten die Protestanten Berichten zufolge, ein Punk habe sich neben statt ins Klo übergeben; und bei plötzlichen Polizeikontrollen waren die Punks durchaus kooperativ, sogar auffällig freundlich.

Was vor fünfzig Jahren noch jeglichen bürgerlichen Fortschrittsoptimismus abgelehnt hat, ist mittlerweile zum unkritischen Abbild der Gesellschaft verkommen. Die Anarchie der Sex Pistols war kein politisches Bewusstsein, sondern bloße Koketterie. Die Punks von heute hingegen teilen ihren Antifaschismus mit ihren Sozialkundelehrern, wie der Politikwissenschaftler Jan Gerber treffend in der Jungle World auf den Punkt brachte. „No Future“, der Slogan, den die Sex Pistols einst für die Punkbewegung prägte, ist längst Vergangenheit.

 

In der nächsten Woche folgt Teil II: Chaostage in Hannover.


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