Benjamin Moldenhauer

Das Zeitalter des Populismus

Der Politikwissenschaftler Jan Gerber spricht im Interview über den Erfolg der AfD und warum sich auch ihre Gegner dem populistischen Politikstil nicht entziehen können.
Jan Gerber ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dubnow-Institut, aktuell leitet er das Forschungsressort Politik.

Jan Gerber ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dubnow-Institut, aktuell leitet er das Forschungsressort Politik.

Bild: Dubnow Institut

Anzeiger: Der von Ihnen mit herausgegebene zweite Band der Hallischen Jahrbücher hat das „Zeitalter des Populismus“ zum Thema. Sie verwahren sich sehr gegen die zurzeit ja populäre Gleichsetzung von Populismus und Faschismus. Was macht Populismus in Ihren Augen aus?

Gerber: Ich begreife den Populismus weniger als ein Programm, sondern als einen Politikstil. Wo die etablierten Parteien mit Sachzwang und Alternativlosigkeit argumentieren, arbeitet der Populismus mit Stimmungen und Affekten. Er setzt auf den Dreiklang aus Polarisierung, Emotionalisierung und Beschleunigung.

Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Ländern, der Erfolg von Trump hat demnach andere Gründe als zum Beispiel der Erfolg der AfD. Was sind denn die Gründe für die Erfolge des Populismus in Deutschland?

Die Urszene des Aufstiegs der AfD war die Einführung von Hartz IV. Damit wurde die sozialpolitische Nachkriegsordnung der Bundesrepublik zerstört. Zugleich potenzierte sich auch die Angst vor dem eigenen Abstieg, die unter den gegenwärtigen Umständen ohnehin zum Standardprogramm der Menschen gehört. Es entstand eine diffuse Panik, die durch die Krisen der letzten Jahre noch verstärkt wurde. Der AfD konnte diese Panik nun bündeln. Das ist ihr vor allem deshalb gelungen, weil sie sich seit 2015 das Image einer Partei der Besitzstandswahrung zulegen konnte. Angesichts ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen ist das zwar absurd. Aber die AfD wäre nicht die erste Partei, bei der Image und Realität auseinanderfallen.

Die Begriffe, mit denen hantiert wird, sind ja teilweise sehr drastisch. Der Fernsehmoderator Jan Böhmermann sprach im Zusammenhang des Versuchs des thüringischen FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich, sich 2020 mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen, von einem „Zivilisationsbruch“. Wie ist denn so ein rhetorischer Maximaleinsatz zu erklären?

Die Begriffe und die Urteilskraft verfallen auch bei Leuten, die sich für differenziert und reflektiert halten. Wenn ich vom „Zeitalter des Populismus“ spreche, in dem wir leben, dann meine ich damit nicht nur die populistischen Parteien. Polarisierung, Emotionalisierung und Affekte sind nicht nur das Geschäft von Björn Höcke und Co., sondern ein allgemeiner gesellschaftlicher Trend. Diesem Trend können sich auch viele Gegner der populistischen Parteien nicht entziehen. Sie tragen damit ganz unfreiwillig zum weiteren Aufstieg des Populismus bei.

Sie sagen, der Erfolg der AfD basiere auf Abstiegsangst. Wenn man sich das Parteiprogramm anschaut, würde sich der ökonomische Druck zum Beispiel auf Arbeitslose unter einer AfD-Regierung noch erhöhen. Zugleich ist das Thema, was den AfD-Wählerinnen und -Wählern wirklich zu Herzen gehen scheint, die Frage, wie man möglichst viele Menschen in möglichst kurzer Zeit abschieben kann. Welche Rolle spielt die sogenannte Migrationsdebatte in Deutschland, wenn es um Populismus geht?

Sie haben Recht: Der AfD ist es nicht durch ihre wirtschaftspolitischen Forderungen gelungen, sich das Image einer Partei der Besitzstandswahrung zuzulegen, sondern über den Umweg der Migration. Das hat irrationale Züge, aber auch einen rationalen Anteil. Denn was die Leute an die Nation bindet, ist nicht die Nationalhymne, sondern das Sozialsystem: Krankenversicherung, Rente, Arbeitslosengeld. Auf dieses System, das schon durch Hartz IV und den Finanzcrash von 2007 zerschossen wurde, kamen durch die Flüchtlingskrise 2015 weitere Belastungen zu. Deshalb konnte die Migration zum Katalysator von Abstiegsängsten werden. Es geht nicht zuletzt um Besitzstandswahrung und die Ausschaltung lästiger Konkurrenz. Früher hätte man Sozialchauvinismus dazu gesagt.

Zentrale Forderungen und Rhetoriken der AfD hinsichtlich einer Verschärfung der Abschiebepraxis wurden von den etablierten Parteien übernommen. Unabhängig, was man davon hält: Ist das ein Weg, der AfD das Wasser abzugraben und die Wahlerfolge zu verringern?

Das Problem ist: Die Populisten werden weniger wegen ihres Programms gewählt, sondern wegen ihrer Art des Politikmachens. Sie kommt den alltäglichen Erfahrungen der Leute deutlich entgegen. Der hemdsärmelige Gestus, die Dynamiken und die programmatische Unverbindlichkeit des Populismus entsprechen dem Zwang zur Flexibilität und permanenten Neuerfindung, die man aus Freizeit und Beruf kennt. Im Unterschied dazu repräsentieren die traditionellen Parteien noch die alte Industriegesellschaft mit ihren klaren Hierarchien und langwierigen Entscheidungsprozessen. Wenn sie nicht genauso untergehen wollen wie die Industriegesellschaft, dann müssen sie sich dem Populismus stilistisch annähern. So können sie AfD und Co. vielleicht das Wasser abgraben. Der Preis dafür wäre aber hoch.

Im Januar sind bundesweit Hunderttausende aus Protest und Sorge im Vorfeld der Landtagswahlen in Ostdeutschland auf die Straße gegangen, bundesweit. Wie schätzen Sie im Rückblick die Demonstrationen ein?

Der Populismus muss dringend kritisiert werden. Aber ähnlich wie Jan Böhmermanns Rede vom „Zivilisationsbruch“ hatten auch diese Demonstrationen populistische Züge. Es war hoch emotionalisiert, der Nationalsozialismus wurde durch AfD-Vergleiche in diversen Spielarten relativiert. Außerdem haben Großdemonstrationen, bei denen man sich mit seiner Regierung einig weiß, oft konformistische Züge. Mittelfristig hat man der Kritik des Populismus damit also wahrscheinlich einen Bärendienst erwiesen.

„Hallische Jahrbücher #2 - Das Zeitalter des Populismus“ ist am 14. Oktober bei Edition Tiamat erschienen. ISBN 978-3-89320-319-2.


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