Patrick Viol

Die Krisenmanagerin: Interview mit der niedersächsischen Gesundheitsministerin Daniela Behrens

Die niedersächsische Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Daniela Behrens, besuchte den ANZEIGER. Wir sprachen mit ihr über ihre ersten 100 Tage im Amt, Corona, Gesundheit auf dem Land, Sorgearbeit und Gewalt gegen Kinder.
Liest immer gern den ANZEIGER: Die Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Daniela Behrens.

Liest immer gern den ANZEIGER: Die Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Daniela Behrens.

Frau Behrens, was hat sie im Februar sagen lassen: Okay, Gesundheitsministerin in einer Pandemie? Das mache ich.
 
Nachdem meine Vorgängerin wegen schwerer Krankheit aufhören musste, rief Stefan Weil mich an und bat mich, ihren Posten zu übernehmen. Ich hatte bis dato zwar überhaupt keine Erfahrung mit Gesundheitspolitik, doch Stefan Weils Antwort darauf war nur: ‚Das ist nicht schlimm, es gibt genug Experten im Ministerium. Ich brauch jemanden, der Krisenmanagement, Organisation und Kommunikation kann.‘ Dann habe ich noch zwei Stunden überlegt und schließlich zugesagt.
 
Und was hat Sie glauben lassen, dass sie das hinbekommen?
 
Meine bisherige Erfahrung: als Staatssekretärin Niedersachsen und als Abteilungsleiterin im Bund. Arbeitsweise und Organisation eines Ministeriums sind mir vertraut. Aber das Thema Gesundheitspolitik machte mir schon etwas Angst. Das war und ist für mich definitiv eine neue Herausforderung.
 
Wurde der Erfolgsdruck spürbar gesteigert, weil das Gesundheitsministerium derzeit so stark im Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit liegt?
 
Ja, definitiv. Es gibt gerade einfach ein großes gesellschaftliches Interesse am Thema Impfen. Die Menschen sind sehr betroffen von den Regelungen der Politik und daher arbeiten wir im Hause rund um die Uhr. 75 Prozent aller Beschäftigten des Ministeriums arbeiten nur in der Coronasteuerung - das ist schon eine starke Belastung.
 
Was lief richtig gut in den letzten 100 Tagen?
 
Richtig gut lief und läuft noch, dass das Ministerium gut aufgestellt ist. Ich bin dort toll aufgenommen worden, da wissen alle, was sie tun. Dort arbeiten Epidemiologen, Ärzte, Wissenschaftler und natürlich auch Juristen und Verwaltungsangestellte. Das Zweite ist: Da wir mehr Impfstoff bekommen und mehr über die Infektion wissen, wird die Arbeit nach zwölf schweren Monaten insgesamt leichter.
 
Macht Sie die Nachricht vom Ausfall vom Curevac-Impfstoff und von der Ausbreitung der Delta-Variante nervös im Ministerium?
 
Der Ausfall des Impfstoffes nicht - das hat sich abgezeichnet. Die Delta-Variante ist eine Herausforderung. Sie wird die Bestimmende im Herbst sein, das lässt sich gar nicht aufhalten. Daher müssen wir schnell die Impfquote erhöhen, damit wir gut mit dem Virus umgehen können. Denn nach der Delta-Variante kommt die nächste Variante. Und was wir bisher wissen ist, dass der Impfstoff auch bei der Delta Variante wirkt. Das ist ja schon einmal eine ganz wichtige Perspektive. Vor allem, weil wir Ende Juli über die Hälfte der Bevölkerung zweitgeimpft haben.
 
Also Anziehen des Impftempos und Vorbereitung auf eine vierte Welle lautet die Strategie?
 
Ja. Jeder, der aus der Wissenschaft dazu eine Prognose abgeben kann, sagt, es wird eine vierte Welle geben. Die Frage ist dabei: Wie hoch ist sie? Wir haben jetzt drei Gründe, warum die Inzidenz so niedrig ist: Wir kommen, erstens aus monatelangen Kontaktbeschränkungen. Der zweite Grund ist die Impfquote und der dritte: Das Virus mag diesen Sommer einfach nicht. Das wird sich im Herbst wieder verändern und die entscheidende Frage wird dann sein: Ist die Impfquote ausreichend? Kriegen wir die sogenannte Herdenimmunität hin oder nicht? Wir brauchen eine Impfquote von 80 Prozent bis Oktober und dann kommen wir gut durch den Herbst, und wenn wir das nicht schaffen, wird es schwierig.
 
Geht dann nicht von den geplanten weiteren Lockerungsmaßnahmen eine Gefahr aus? (Seit Montag, 21. Juni, gilt eine neue Corona-Verordnung, die weitere Lockerungen bei einer Inzidenz unter 10 vorsieht. Das Interview wurde am 18. Juni geführt.)
 
Nun, wir stehen auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes und wir dürfen die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern nur soweit einschränken, wie das Infektionsgeschehen das erfordert. Wenn wir also kaum ein Infektionsgeschehen haben, dann gibt es rechtlich keine Gründe, Menschen zu verwehren, dass sie sich treffen, dass sie in Gaststätten gehen und ihren Beruf ausüben - da würde man jede Klage vor einem Gericht verlieren. Und deshalb müssen wir bei einer Inzidenz unter zehn die Lockerungen zulassen.
 
Fühlen Sie sich wohl dabei, die Rechte der Menschen einzuschränken?
 
Wenn ich mir die Situation auf den Intensivstationen und die zahlreichen Todesfälle vor Augen führe, die wir hatten, dann kann ich das verantworten, ja. Das soll auch heißen: Auch wenn wir jetzt lockern, sollten wir weiter vorsichtig sein. Denn die Pandemie ist noch nicht vorbei.
 
Bei den vorherigen Lockerungen gab es einige Kritik aus der Bevölkerung aufgrund von Widersprüchen hinsichtlich der Maskenpflicht. So hätte man auf einer Hochzeit abseits des Sitzplatzes eine Maske tragen sollen, in einem Klub hingegen nirgendwo. Wie kommt es zu solchen Widersprüchen bzw. wie schwer ist konsistente Politik gegen einen unberechenbaren Gegner?
 
Solche Widersprüchlichkeiten lassen sich gar nicht verhindern, weil wir mit jeder Coronaverordnung einen totalen Spagat hinzubekommen versuchen. Einmal haben wir verschiedene Inzidenzstufen: bis 10, bis 35, bis 50, über 50 und über 100 gilt die Bundesnotbremse.
Dann müssen wir jeden Bereich der Gesellschaft regeln und in der Abwägung verschiedener Interessen kommt es immer zu Unwuchten. Und dass wir in Gaststätten weniger Auflagen hatten als im Privatbereich, das liegt einfach darin begründet, weil dort ein Gastwirt für die Veranstaltung verantwortlich ist und die Hygienevorschriften durchsetzen muss. Tut er das nicht, hat er mit Konsequenzen zu rechnen. Und im Privaten gibt es diese Kontrollmöglichkeiten nicht, weshalb man in Gaststätten mehr zugelassen hat als im Privatbereich.
Das ist natürlich alles nur ein theoretisches Konstrukt, weil keiner in die private Wohnung schaut. Aber solche Regelungen sind der Hinweis an die Leute: Bitte denkt daran, wir sind immer noch in der Pandemie; alles kann sich ganz schnell anders entwickeln.
Aber wir können, wenn wir auf die letzten zwölf bis 15 Monate schauen, sagen, dass sich die meisten Leute an die Regeln halten. Die meisten Menschen sind sehr verantwortungsbewusst. Sonst hätten wir das Infektionsgeschehen nicht so drosseln können.
 
Stichwort niedriges Infektionsgeschehen: Warum hielt Niedersachsen solange an einem Verbot von Prostitution unter einer Inzidenz von 35 fest, während andere körpernahe Dienstleistungen wieder erlaubt wurden? Hätten Sie als Ministerin, die auch für den Schutz und die Interessen von Frauen zuständig ist, das Verbot nicht eher aufheben sollen? Nicht zuletzt deshalb, weil das Verbot viele Frauen in die Situation brachte, illegal und weniger sicher arbeiten zu müssen?
 
Naja, Prostitutionsstätten sind ehrlich gesagt keine Schutzräume für Frauen und ich glaube, dass man Prostitution und den Schutz von Frauen nur bedingt zusammenbringen kann.
 
Ihre Situation wird aber nicht besser, wenn man sie auf die Straße oder in irgendwelche Caravans schickt.
 
Sie durften in der Zeit der hohen Inzidenzzahlen gar nicht arbeiten. Es gab aus Infektionsgründen ein klares Verbot. Übrigens auch von Gerichten bestätigt.
 
Viele mussten das aber und haben es getan.
 
Das ist doch kein Zustand, den man gesetzlich akzeptieren kann. Und betrachtet man die Lebensrealität, dann weiß man, was in der Prostitution passiert: Dort geht es nicht zu, wie in einem Tattoostudio. Dass der Kunde, der bei der Prostituierten sitzt, seinen Namen und seine Kontaktadresse angibt und dass im Fall einer Ansteckung die Kontaktnachverfolgung funktioniert, ist unrealistisch. Daher haben wir bis zuletzt die Prostitution so stark beschränkt. Nicht weil wir Prostitution nicht wollen. Ich befürworte kein Sexkaufverbot - wir haben ein Prostituiertenschutzgesetz und es gibt gute Gründe, warum Prostitution so geregelt ist. Das stellen wir nicht infrage. Nur lässt sich Infektionsschutz mit der Dienstleistung der Prostitution schwierig zusammenbringen.
 
Nun hat aber das Oberverwaltungsgericht entschieden, dass Prostitution wieder erlaubt ist.
 
Aber mit der Einschränkung, dass sie nur so ausgeübt werden darf wie körpernahe Dienstleistungen. Also sind bestimmte Praktiken in Prostitutionsbetrieben derzeit nicht erlaubt. Aber glauben Sie, dass Freier und Prostituierte sich an die Beschränkungen halten? Natürlich nicht. Das ist nicht lebensreal, was der Richter da entschieden hat. Aber wir halten uns an die Rechtsprechung und setzen sie um. Auch, dass es unter einer Inzidenz von zehn keine Einschränkungen mehr in der Prostitution gibt.
 
Kritik gab es auch an den sogenannten Impfbriefen. Einige Ärzte bezeichneten sie als einen Bärendienst, den ihr Ministerium damit den Arztpraxen erwiesen hätte. Wie sehen sie die Aktion im Nachhinein?
 
Dass sich die Ärzte beschwerten, kann ich verstehen. Dieser Brief ist in einer Phase gekommen, in der die Ärzte gerade erst mit dem Impfen angefangen haben und noch wenig Impfstoff hatten und dann kamen zusätzlich die ganzen Menschen mit den Briefen, die sagten: Ich bin impfberechtigt.
Mit dem Brief wollten wir besonders Erkrankte informieren und ihnen den Gang zum Arzt ersparen, um sich dort ein Attest zur Berichtigung fürs Impfen im Impfzentrum zu holen. Abgewickelt haben das die Krankenkassen. Rausgeschickt wurden die Briefe anhand der Abrechnungen der Ärzte. Hier gibt es sicherlich Nachsteuerungsbedarf im Zusammenspiel von Krankenkassen und Arztpraxen.
 
Da fällt die Kritik anscheinend auf die Kritiker zurück. Aber bleiben wir doch noch für ein paar Fragen hier vor Ort. Wie lief denn die Zusammenarbeit mit den Impfzentren in Osterholz-Scharmbeck, Bremervörde und Zeven?
 
Es gibt einen sehr intensiven Austausch. Jede Woche sitzen wir mit allen Leitern der Impfzentren zusammen. Ich gucke mir jeden Tag die Zahlen an und ich kann nur sagen: Die Impfzentren in den Landkreisen Rotenburg und Osterholz machen das total gut. Sie haben eine gute Impfquote. Alles ist gut organisiert. In Osterholz haben wir fast 54.000 und in Rotenburg über 58.000 Impfungen. Die machen das hier vernünftig und kreativ. Der Impf-Drive-in war z. B. eine schöne Idee. Dass die Kommunen die Impfkampagne umsetzen, hat sich bewährt.
 
Während von ihnen Lob für die Kommunen kommt, kritisierten die Kommunen auf dem jüngsten Landkreistag jedoch eine schlechte Kommunikation zwischen Land und Kommunen. Einige Landkreise hätten von Verordnungen erst über Pressemitteilungen erfahren.
 
Diese Kritik teile ich nicht. Die Kommunen werden über ihre Spitzenverbände rechtzeitig eingebunden und viele ihrer Rückmeldungen fließen mit in die endgültige Verordnung ein.
Das Einzige, was man mit Recht kritisieren kann, ist, dass es so wenig Vorlauf gibt. In der Regel sind es nicht mal zwei Tage, um sich auf die Verordnung vorzubereiten. Das geht aber auch nicht anders. Weil das Infektionsschutzgesetz solche kurzen Fristen vorsieht. Wir sind im Krisenbewältigungsmodus. Da sind keine lange Beteiligungsverfahren vorgesehen.
 
Gesundheit auf dem Land
 
Laut Prognose der Kassenärztlichen Vereinigung werden bis zum Jahr 2030 rund 1.400 Hausärzte und Hausärztinnen und über 1.000 weitere niedergelassene Fachärzte und Fachärztinnen benötigt. Wie soll die medizinische Versorgung auf dem Land (Rotenburg, Osterholz) konkret gewährleistet und verbessert werden?
 
Wir befinden uns bei den Medizinern wie bei den meisten Berufen in einem demografischen Wandel. Die Alten hören auf, aber die Jüngeren kommen erst später nach. Zudem ziehen Ärzte lieber in die Städte und nicht in den ländlichen Raum.
So werden in der Zukunft sicherlich einige Ärzte fehlen, aber aufgrund einer falschen Verteilung: viele Ärzte in der Stadt, wenig auf dem Land. Insgesamt haben wir aber genug. Das muss die Kassenärztliche Vereinigung, die für die Verteilung zuständig ist, intensiv besprechen. Das ist das Erste. Die zweite Frage ist: wie wollen wir es erreichen, dass wir die Ärzte hier auf dem Land halten. Da haben die Kommunen gute Konzepte wie z. B. kleine regionale Gesundheitszentren mit mehreren Ärzten, die einen Praxisverbund machen oder Zuschüsse für Praxisübernahmen.
Und wir wollen zudem an der Uni Oldenburg die Studienplätze für Medizin ausbauen, auf 120 pro Semester, statt der derzeitigen 80. Die Debatte läuft gerade. Und wir werden ein Gesetz zur Landarztquote auf den Weg bringen. Das bedeutet, dass zehn Prozent der Studienplätze für Studierende festgeschrieben werden, die sich für 10 Jahre verpflichten, als Arzt aufs Land zu gehen.
 
Ist für die auch ein anderes Auswahlverfahren vorgesehen?
 
Ja, die müssen zwar auch ein gutes Abitur mitbringen. Aber es zählen auch andere Qualitäten. Wenn jemand z. B. vorher eine Ausbildung zum Rettungsassistenten gemacht hat. Wir wollen aber auch einen Assessment-Format zur Auswahl mit auf den Weg bringen.
 
Familie, Frauen, Kinder und Jugend
 
Note mangelhaft: Das ist die Note, die ein Osterholzer Abiturient der Politik für ihren Umgang mit Schüler:innen und Studierenden erteilt. Können Sie seine Bewertung nachvollziehen?
 
Ja, auf jeden Fall. Schüler:innen und Schüler waren in den letzten 15 Monaten besonders betroffen. Wenn die Schule nicht mehr funktioniert, weil sie nicht offengehalten werden kann, wenn man Jugendarbeit beschränkt, wenn die Clubs geschlossen haben - wenn man alles das, was Spaß macht, nicht mehr machen kann, dann fühlt man sich als Jugendlicher schon sehr in seinem Leben eingeschränkt.
Wir haben in der letzten Woche entsprechend eine Konferenz mit Kindern und Jugendlichen gemacht, um zu erfahren, was die sich jetzt wünschen. Das versuchen wir u. a. in einem „Aufholprogramm“ umzusetzen. Damit soll Kinder- und Jungendarbeit unterstützt werden.
Was nun nicht mehr passieren darf, ist, dass man für Kinder und Jugendliche wieder alles beschränkt. Man hat sich zu Anfang der Pandemie sehr darauf verlassen, was Virologen gesagt haben und hat nicht andere Disziplinen wie die Pädagogik oder Psychologie mit hinzugezogen. Das ist ja auch kritisiert worden. Daraus hat man jetzt gelernt.
Wenn der Herbst vom Infektionsgeschehen her betrachtet jetzt nicht zu schlimm wird, dann bekommt man auch einen ordentlichen Schulbetrieb samt Jugendarbeit hin.
 
Dass man nicht mehr nur dichtmachen wird, hat sicherlich auch mit der Erfahrung zu tun, dass zum einen die Gewalt in Familien gestiegen ist und zum anderen, dass Frauen fast überall allein in einem kaum zu bewältigen Maße für die Sorgearbeit zuständig wurden. Das vollzog sich auch unter Paaren, die sich für gleichberechtigt hielten, wie es Frauen erzählten, und das auf dem Land noch mal stärker als in der Stadt. Wie kann man solche Rückschritte in der Gleichberechtigung wieder rückgängig machen und wie bringt man Gleichberechtigung auf dem Land stärker voran?
 
Ich glaube nicht, dass die Pandemie dazu geführt hat, dass die Gleichberechtigung zurückgegangen ist. Die Pandemie hat dazu geführt, dass etwas aufgedeckt wurde, das vorher schon da war.
Es berichteten Frauen aber durchaus, dass sie sich nahezu automatisch in der Fürsorge z. B. im Homeschooling wiederfanden, obwohl sie einen Job hatten und die „normale“ Betreuung aufgeteilt war.
 
Da muss man sich die Hintergründe anschauen. Der Rückschritt der letzten Monate lag vor allem daran, dass die Infrastruktur im Bereich Betreuung und Bildung weggebrochen ist. Und wenn die wegbricht, kümmern sich in der Regel die Frauen. Und warum? Erstens, weil sie schlechtere Jobs mit anderer Bezahlung haben als die Männer. Zweitens, weil sie weniger Stunden arbeiten als die Männer und drittens, weil sie es nicht schaffen, in ihrer Partnerschaft eine ordentliche Vereinbarung darüber zu treffen, wie man sich die Sorgearbeit aufteilt. Mindestens das Dritte ist die Aufgabe der Frauen, die anderen beiden Punkte sind Aufgaben der Gesamtgesellschaft.
Und in einer solchen Krise wie jetzt, in der die Betreuungsstruktur wegbricht, bleibt - nehmen wir das Beispiel Mechaniker und Verkäuferin - der zu Hause, der nicht so viel verdient. Weil sonst das Familieneinkommen nicht ausreicht. Deswegen haben Frauen den Nachteil. Sie werden schlechter bezahlt und arbeiten meist in Teilzeit. Und auf dem Land ist die Frauenerwerbsquote längst nicht so hoch wie in der Stadt.
 
Und wie soll der Staat das Problem angehen?
 
Er muss eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie garantieren, indem er Kitas und Schulen mit Ganztagsbetreuung massiv ausbaut. Auch auf dem Land. In Frankreich ist das völlig normal. Die gucken uns mit großen Augen an und denken wir sind bescheuert.
Als Zweites muss der Staat erreichen, dass die sozialen Berufe, die Frauen gerne ergreifen, wertgeschätzt und ordentlich bezahlt werden. Warum verdiene ich denn als Erzieherin mit vierjähriger Ausbildung weniger als einer, der bei Mercedes am Band steht, aber gar keine Ausbildung dafür haben muss. Das hängt von der gesellschaftlichen Wertschätzung ab, von Gewerkschaften und Sozialpartnerschaften. In Deutschland gibt man offensichtlich mehr Geld für ein Auto aus als für soziale Leistungen.
Und der dritte Bereich ist die Eigenverantwortlichkeit der Frauen. Wenn ich mich auf eine Partnerschaft einlasse, verliebt bin und mit meinem Partner ein Kind kriege, dann hat man doch neun Monate Zeit, zu überlegen: Wie machen wir das eigentlich? Und diese private Debatte ist auch eine hoch gesellschaftliche Frage. Und wir stellen in dieser Situation in Deutschland immer wieder fest, dass Frauen sich zurückziehen und immer noch mehr übernehmen als der Mann. Das hat damit zu tun, wie ich Partnerschaft definiere. Daher ist auch immer mein Impuls, Frauen starkzumachen und zu sagen: Du musst mit deinem Mann darüber sprechen. Wenn ihr das nicht besprecht, wird das automatisch an Dir hängen bleiben.
Partnerschaft zeichnet sich dadurch aus, wie man Familie organisiert und wie man sich um die Kinder kümmert. Das ist nicht automatisch die Aufgabe der Frau.
 
Nun ist das ein sehr rationalistischer Blick darauf, wie Menschen in Partnerschaften miteinander umgehen können. Gespräche auch unter Partnern werden nicht fernab ideologischer Vorstellungen geführt. Nicht selten denken Männer auch dann, ihre Arbeit sei wichtiger, wenn sie weniger als die Frau verdienen. Wäre nicht die Bezahlung von Hausarbeit auch ein Ansatz, um die Position von Frauen zu stärken?
 
Ich möchte doch keine Frau dafür bezahlen, dass sie vom Arbeitsmarkt wegbleibt. Das können wir uns gar nicht leisten. Es muss darum gehen, die Haus- und Erwerbsarbeit auf zwei Partner fair zu verteilen, damit beide einem Beruf nachgehen können und der Staat hat dafür zu sorgen, dass das möglich ist, indem er die Betreuungs- und Bildungsstrukturen ausbaut. Das ist entscheidend und ebenso, dass die Frauen in Partnerschaften in die Diskussion über die gerechte Aufteilung der Kinderbetreuung gehen. Und wenn eine Frau aus finanziellen Gründen zu Hause bleibt, sollte sie ihren Partner dazu bringen, dass er z. B. für sie monatlich in die Rentenkasse einzahlt.
 
Bleiben wir zum Schluss bei unseren Kindern. Eine der schrecklichsten Begleiterscheinungen der Pandemie ist die gestiegene Gewalt gegen Kinder in Familien. Bräuchte es nicht präventiv - neben pädagogischem und polizeilichem Personal zur Beobachtung und Verfolgung von Straftaten - auch einen kritischen gesellschaftlichen Dialog über Familie als einen spezifischen Ort von Gewalt und darüber, wie hier Gewalt entsteht?
 
Insgesamt brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir mit Kindern umgehen - ebenso übrigens darüber, wie wir mit Frauen umgehen. Denn jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Für Frauen wie für Kinder ist der gefährlichste Ort das eigene Zuhause.
Und die Zahlen sind in den letzten Monaten gestiegen, weil 40 Prozent der Übergriffe an Kindern durch Schule und Kita entdeckt werden. Wenn aber diese Instrumente nicht greifen können, dann kann man schwer Kindern helfen, die betroffen sind. Und jetzt kommen die ganzen Fälle ans Licht.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir noch einmal mehr Engagement in die Stärkung von Kindern stecken, damit sie in die Lage versetzt werden, sich zu wehren und sich Hilfe zu suchen.
Im Ministerium bereiten wir zum Beispiel den Ausbau von Kinderschutz-Ambulanzen vor. Aber insgesamt haben wir eigentlich viele Instrumente zum Kinderschutz. Woran es aber immer wieder scheitert, ist, dass man sich bekennen muss. Was heißt das? Nehmen wir den Fall Lüdge. Hier hat ein Netzwerk von Männern über Jahre auf einem Campingplatz Kinder in einem Wohnwagen missbraucht. Und ich glaube nicht, dass es nicht aufgefallen ist, dass da ständig ein Mann mit anderen Männern mit kleinen Kindern in einen Wohnwagen gestiegen ist. Ich glaube auch nicht, dass, wenn ein Kind in einer Nachbarschaft Gewalt erfahrt, das keinem auffällt. Das fällt auf - nur sagt man es nicht. Deshalb müssen wir noch mehr Engagement dafür aufbringen, dass die Menschen den Mut aufbringen, so etwas zu melden und das anzuzeigen und sich zu bekennen. Damit macht man sich nicht gerade beliebt und man liegt vielleicht auch mal falsch. Aber wenn wir nicht niedrigschwellig dafür sorgen, den Menschen Mut zu machen, etwas anzuzeigen, was sie beobachten, dann kommen wir aus der Spirale nicht heraus.
Wir brauchen wir mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Kinder und Jugendliche.
 
Aber vielleicht behindert ein verklärtes Bild von Familie als heile Welt ja gerade eine solche Aufmerksamkeit. Was hat denn dazu geführt, dass sich die SPD bei der Diskussion um Kinderrechte ins Grundgesetz nicht durchsetzen konnte?
 
Ich weiß nicht, ob es ein verklärtes Bild von Familie gibt und ich würde auch nicht sagen, dass jede Familie ein Ort des Schreckens ist. Aber es gibt Fälle, um die man sich kümmern muss. In der Krise ist es so, dass auf Familien viel Druck lastet, vor allem finanzieller. Und an wem lässt man es aus, wenn man ein Aggressionspotenzial hat? An den Schwächsten in der Familie und das sind in der Regel die Kinder.
Zugleich haben wir die Familie im Grundgesetz besonders geschützt. Daher gibt es z. B. für die Jugendhilfe gar nicht soviel Möglichkeiten, in eine Familie zu gehen und ein Kind daraus zu holen, wenn es keine harten Belege gibt. Sogar, wenn nachgewiesen ist, dass Kindern Gewalt angetan wurde, bekommt man sie trotzdem nicht schnell aus der Familie heraus. Weil das Grundgesetz das stark rechtlich reglementiert. Und deswegen wollen wir Kinderrechte in die Verfassung bringen, um sie nicht nur über die Familie zu schützen, sondern Kindern unter anderem ein eigenes Recht gegenüber den Eltern zu geben. Dazu hat die SPD auf Bundesebene bzw. die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht einen Formulierungsvorschlag gemacht und die Union hat ihn nicht mitgetragen. Der war ihr zu weitgehend.
Ingesamt ist es nicht gelungen, das Thema Kinderrechte so zu verankern, dass sich da alle hinter versammelt haben.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Ich danke Ihnen.
 Das Gespräch mit der Ministerin führte Patrick Viol.


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