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„Einfach ist schwer“

„Wann schreibst du echte Bücher?“: Autorin Johanna Lindemann spricht im ANZEIGER-Interview darüber, warum Kinderbücher maßlos unterschätzt werden.
Johanna Lindemann hat viele Geschichten erzählt. 2013 veröffentlichte die Autorin ihr erstes Kinderbuch. Sie lebt mit ihrer Familie in Scharmbeckstotel.

Johanna Lindemann hat viele Geschichten erzählt. 2013 veröffentlichte die Autorin ihr erstes Kinderbuch. Sie lebt mit ihrer Familie in Scharmbeckstotel.

Bild: Doris Spiekermann-Klaas

Anzeiger: Was hat Sie inspiriert, Kinderbücher zu schreiben, und welche Botschaften möchten Sie an Ihre jungen Leserinnen und Leser vermitteln?

 

Lindemann: Fast 25 Jahre habe ich für andere geschrieben: Für Radiosender, Kaugummihersteller, Versicherungen, Bundesministerien, Filmproduktionen un vieles mehr. Niemand hat sich so über meine Texte und Geschichten gefreut wie Kinder. Deshalb bin ich Kinderbuchautorin geworden. Eigentlich naheliegend. Nur der Weg dahin war etwas kurvenreich.

Mit meinen Büchern möchte ich Kindern das Gefühl geben, dass sie zählen und wichtig sind, ganz egal, wie sie aufwachsen. Ich möchte sie ermutigen, an ihre Fähigkeiten zu glauben – selbst wenn die Außenwelt manchmal etwas anderes sagt. Und natürlich möchte ich ihnen davon erzählen, dass unsere Welt voller Wunder und irrwitziger Abenteuer ist.

 

Wie viel Zeit und Recherche stecken Sie in die Entwicklung Ihrer Geschichten und Charaktere?

 

Oh, sehr, sehr viel! In meinem rastlosen Kopf kommen dauernd Ideen vorbeigeflattert. Die Kunst ist es, der richtigen Idee einen Stuhl hinzustellen. Dann beginnt die Arbeit. Manchmal dauert es Jahre, bis ich ein Thema greifen kann, aus Figuren echte Menschen werden und die Geschichte rund ist. Manchmal geht es aber auch schneller. Meine „Dino-Detektive“, die im Februar 2025 erscheinen, sind innerhalb eines Jahres entstanden.

An Band 1 meines Kinderkrimis „Die Hochhaus-Detektive“ wiederum saß ich fast zwei Jahre. Ich hatte das Glück, ein Stipendium der Berliner Akademie der Künste zu bekommen, das mir die Möglichkeit gab, ausgiebig zu recherchieren.

Der konkrete Schreibprozess dauert bei Bilderbuchgeschichten im Schnitt ca. 3-6 Monate. Meist arbeite ich an mehreren Geschichten gleichzeitig. Dem zuvor geht meist ein monate- mitunter auch jahrelanges „Schwanger Gehen“ mit einer Idee, in der ich recherchiere, mit Menschen spreche, viel zu einem Thema lese. Mitunter stelle ich fest: Ein Kinderbuch zu dem Thema gibt es bereits und es ist leider richtig gut! Dann heißt es: Kill your darlings. Einer der wichtigsten Ratschläge, die mir eine Schreibmentorin mal gab.

 

Kinderbücher gelten oft als „einfach“. Wie komplex ist der Schreibprozess tatsächlich, wenn man den Bedürfnissen und der Vorstellungskraft von Kindern gerecht werden will?

 

Alle Künstler:innen wissen: Einfachheit ist schwer. Wenn ich für Kinder schreibe, vermeide ich Fremdwörter oder abstrakte Begriffe - wenn ich sie verwende, versuche ich sie eingebettet in der Handlung zu erklären. Ich erzähle auf Augenhöhe der Kinder und zwar jeweils in der Altersstufe, für die ich schreibe. Es macht sprachlich einen riesigen Unterschied, ob ich für ganz junge Kita-Kinder, Vorschulkinder, Erstklässler oder Viertklässler schreibe.

Generell lasse ich meine Geschichten immer von Testleser:innen im jeweiligen Lesealter gegenlesen. Oft arbeite ich auch mit Sensitivity Readern zusammen, die meinen Text auf kulturelle Klischees oder Vorurteile überprüfen. Das war mir z.B. bei meinen Hochhausdetektiven sehr wichtig, da ich weder türkisch- noch indischstämmig und auch nicht unter prekären Bedingungen in einem Hochhaus aufgewachsen bin.

Meine „Dino-Detektive“ hat ein echter Dino-Forscher vom Berliner Naturkundemuseum auf ihre historische Richtigkeit gegengecheckt.

 

Kinderbuchautoren werden in der Öffentlichkeit oft nicht auf dieselbe Weise gewürdigt wie Autoren von Literatur für Erwachsene. Warum glauben Sie, wird diese wichtige Sparte der Literatur oft unterschätzt?

 

Daran kann man ablesen, welchen Stellenwert Kinder in Deutschland haben. In anderen Ländern wie Schweden und den Niederlanden wird Kinderliteratur viel höher geschätzt.

Viele Erwachsene scheinen sich in unserem Land nicht mehr daran zu erinnern, dass auch sie einmal Kind waren: Welche Bücher haben Sie damals geliebt? Vielleicht haben Sie die Geschichten Ihrer Lieblingsbücher vergessen, aber die Geschichten haben Sie nicht vergessen! Sie leben in Ihnen weiter. Kinderbücher sind wie Samen, die in uns wachsen und blühen. Wer das unterschätzt, hat nicht verstanden, wie alles beginnt, wie in der Kindheit die Grundsteine für Fantasie und Träume gelegt werden.

 

Wie reagieren Sie auf Aussagen wie die von Friedrich Merz, die Kinderbuchautoren indirekt als weniger ernstzunehmend darstellen?

 

Zuerst einmal bin ich enttäuscht, dass sich Friedrich Merz damit eines Narrativs bedient, das die AfD schon länger gebraucht: Robert Habeck als Kinderbuchautor herabzusetzen. Eine solche Aussage sagt sehr viel über die Person aus, die sie äußert. Ich sag mal so: Wer Kinderbuchautoren nicht mag, der mag auch keine Kinder.

 

Inwiefern prägen Kinderbücher die Werte und Einstellungen von zukünftigen Generationen, und warum ist es wichtig, diese Verantwortung ernst zu nehmen?

 

Die Bücher und Geschichten, die uns als Kinder geprägt haben, tragen wir ein Leben lang in uns. Diese Verantwortung kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Kinder identifizieren sich ganz und gar mit dem, was sie lesen, hören oder sehen. Sie sind ein Pirat, Astronautin, Polizistin, Prinz. Deswegen ist es ja auch so wichtig, dass wir Kindern Bücher in die Hand geben, in denen möglichst eine breite Vielfalt von Rollen angeboten werden, in sie schlüpfen können: Was möchtest du heute sein? Welche Welt möchtest du entdecken?

Neben Neugier, Konzentration, Erweiterung des Wortschatzes und einem Gefühl für Sprache, lernen Kinder in Büchern andere Lebenswirklichkeiten kennen und damit die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, kurz: Empathie und Toleranz, die wir heute mehr denn je brauchen.

 

Haben Sie den Eindruck, dass Kinderbücher in Bildungs- und Kulturdebatten den Platz bekommen, den sie verdienen?

 

Kinderbücher haben fast gar keinen Platz in öffentlichen Debatten. Wie viele Zeitungen, Radiosendungen oder gar Fernsehsendungen kennen Sie, die Kinderbücher rezensieren? Deswegen freue ich mich auch sehr über dieses Interview!

Als Bremen 2023 von der UNESCO in den illustren Kreis der weltweiten „Cities of Literature“ aufgenommen wurde - unter anderem wegen seiner bunten und vielfältigen Kinderbuchszene - hat die Presse fast gar nicht darüber berichtet. Im Dezember 2024 haben 140 Kinder die Bremer Bürgerschaft gestürmt und begeistert die Premiere unser Buchs „Esel, Hund, Katze, Hahn“ gefeiert, in dem 10 bekannte Bremer Kinderbuchautor:innen das Märchen der Bremer Stadtmusikanten weitererzählt haben. Es hat niemand darüber berichtet! Daran sieht man ganz gut, welchen Platz Kinderbücher in unserer Öffentlichkeit haben.

Kinderliteratur wird oft belächelt, als nebensächlich betrachtet. Oft erlebe ich es, dass Menschen mich fragen, wann ich denn mal „richtige“ Bücher schreibe. Dabei habe ich mich bewusst für das Schreiben von Kinderbüchern entschiedenen, weil ich das Leuchten in den Augen der Kinder liebe, wenn ich ihnen meine Bücher vorlese.

Kinderbücher werden oft nur als „netter Zeitvertreib“ abgetan. Meiner Meinung nach sollte viel mehr in öffentlichen Debatten darüber gesprochen werden, welchen enormen Einfluss Kinderbücher auf die emotionale und intellektuelle Entwicklung unserer Kinder haben. Sie sind das Fundament für Lesekompetenz, sprachlicher Kreativität und kritischem Denken.

Ein Drittel der Eltern liest seinen Kindern gar nicht mehr vor. In Kita-Lesungen erlebe ich, wie Kleinkinder auf Büchern herumwischen, weil sie nur Tablets kennen.

Ich befürchte manchmal, dass wir die Bedeutung Kinderbüchern erst erkennen, wenn es schon zu spät ist.

 

Welche gesellschaftlichen Themen greifen Sie in Ihren Werken auf, und warum sind diese für Kinder wichtig?

 

Als Künstlerin genieße ich es, frei zu sein und die Idee aufzugreifen, die in mir die stärkste Resonanz auslöst. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass mir Mut, Hoffnung, Gerechtigkeit und die Kraft der Freundschaft sehr am Herzen liegen. Ich hinterfrage gerne Stereotypen und liebe es Kinder, zum Lachen zu bringen. Praktischerweise geben mir meine Töchter regelmäßig Rückmeldungen, welche meiner Witze Kinder - angeblich - nicht lustig finden.

 

Können Sie ein Beispiel dafür geben, wie ein Kinderbuch die Welt eines Kindes nachhaltig beeinflusst hat?

 

Neulich hat mitten in einer meiner Lesung ein türkischstämmiger Junge begeistert gerufen: „Mesut ist einer von uns!“ Mesut ist einer meiner drei Hochhausdetektive. Sie haben ihr Detektivbüro oben auf dem Hochhausdach gegründet, weil sie von dort die beste Aussicht haben, um Verbrecher zu jagen. In meinen Lesungen frage ich immer, ob hier zufällig Kinder anwesend sind, die in einem Hochhaus leben? Wenn sich dann ein Kind stolz meldet, schauen die anderen Kinder es fast neidisch an. Das macht mich sowas von glücklich.

Regelmäßig erlebe ich nach Lesungen, dass Kinder mir versichern, dass sie nun auch Geschichten schreiben werden. Da hüpft mein Autorinnenherz natürlich vor Freude.

 

Wie betrachten Sie den Stellenwert von Kreativität und Fantasie, die Kinderbuchliteratur fördert, in einer zunehmend digitalisierten Welt?

 

In meinen Lesungen kann ich fast dabei zuschauen, wie der Wortschatz der Kinder von Jahr zu Jahr kleiner wird. Manche Wörter aus meinen Büchern, die ich vor fünf Jahren vorgelesen habe, kennen Kinder heute nicht mehr. Manchmal fühle ich mich wie in der „Unendlichen Geschichte“ im Kampf gegen das Nichts.

Unsere digitale Welt ist so irre laut und schnell. Überladen mit vorgefertigter Unterhaltung, die zunehmend von seelenloser KI erschaffen wird. Bücher sind stille Zufluchtsorte, in der Kinder ihre eigenen Bilder und Welten erschaffen können. Orte, an denen sie träumen können. Das ist eine Kraft, die kein Algorithmus ersetzen kann.

 

Welche Fähigkeiten oder Werte können Kinder durch das Lesen Ihrer Bücher entwickeln, die sie auf ihrem Lebensweg begleiten?

 

Mut, Mitgefühl, Fantasie und natürlich Humor. Plus ein bisschen Anarchie, dass man die Welt auch mal ganz anders betrachten kann und soll.

 

Wenn Sie eine Botschaft an diejenigen richten könnten, die die Bedeutung von Kinderbüchern unterschätzen – was würden Sie sagen?

 

Lange kein Kinderbuch mehr gelesen? Am besten gehen Sie in eine gute Buchhandlung und lassen sich beraten. Dann schnappen Sie sich ein Kind und tauchen mit ihm zusammen in die Geschichte ein. Aber Vorsicht: So ein Kinderbuch mag klein und unscheinbar wirken, aber es hat die Macht, die Welt eines Kindes zu verändern – und damit unsere Welt von morgen.


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