
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Nachdem sich auf pro-palästinensischen Demonstrationen unter teilnehmenden Mitgliedern muslimischer Communities offener Antisemitismus Bahn gebrochen hatte und es - nach anfänglichem Zögern - auch zu einer Benennung von muslimischem oder islamischem Antisemitismus samt Verurteilung gekommen ist, dauerte es nicht lange, bis relativierende Stimmen darauf hinwiesen, dass Antisemitismus in Deutschland primär von Rechtsextremisten ausgehe. Zu 94 %, um genau zu sein. Diese Angabe gründet sich auf der polizeilichen Statistik zur „Politisch Motivierten Kriminalität“ (PMK) aus dem Jahr 2017.
Statistik vs. Erfahrung
An diesem Relativierungsversuch sind drei Dinge problematisch:
Zum Ersten wird hiermit die Erfahrung von Jüdinnen und Juden, die Opfer antisemitischer Übergriffe wurden, nicht ernst genommen und überhört. (Interessanterweise von jenen Leuten, die sich zur Bekämpfung von Rassismus dafür einsetzen, den Opfern zuhören zu müssen.) Diese nämlich zeichnen ein ganz anderes Täterbild. So führte die Universität Bielefeld unter Opfern von Antisemitismus eine Umfrage durch. Das Ergebnis ist deutlich und widerspricht diametral der polizeilichen PMK-Statistik. Demnach kämen 81 % der Vorfälle von muslimischer Seite. In der PMK-Statistik für 2017 tauchen aber nur 2 % auf (31 Fälle, davon eine Gewalttat).
Entsprechend - und das ist das zweite Problem - zeigt sich, dass die polizeiliche Erfassung Mängel hinsichtlich der Feststellung der Täter:innen und deren Motive aufweist. Diese folgen sowohl aus der Systematik als auch aus der Erfassungspraxis der polizeilichen Daten.
Mängel bei Datenerfassung
Die Statistik sieht fünf Kategorien für antisemitische Taten vor: 1. PMK rechts, 2. PMK links, 3. PMK ausländische Ideologien, 4. PMK religiöse Ideologien und 5. PMK nicht zuzuordnen. Allerdings finden sich in der 4. Kategorie, die erst seit 2017 existiert, fast überhaupt keine Taten. Von den 1.514 antisemitischen Taten 2017 entfallen 31 auf diese religiöse Kategorie (2 %).
Diese Nichtanwendung der Kategorie ist Folge der Erfassungspraxis. Die stellt nämlich auch die Motivation von Tätern fest, und auch dann, wenn die nie gefasst wurden. So wurden in Berlin 2014 nur 30 % der 192 antisemitischen Straftaten aufgeklärt, aber 98 % der rechtsextremen Tätergruppe zugeordnet. Ein Graffito beispielsweise wie „Juden raus“ wird so automatisch der „PMK rechts“ zugeordnet, obgleich es sich dabei auch um muslimische Täter handeln könnte. So entsteht ein nach „rechts verzerrtes Bild“, was ein Expertenkreis Antisemitismus des Bundestags 2017 anmahnte. Weshalb er den Schluss zog: „Man darf also die Zahlen der PMK-Statistik nicht als Abbild der Realität missverstehen.“ Geändert wurde an der Erfassungspraxis bislang jedoch nichts.
Menschen ernst nehmen
Schließlich - und das zum Dritten - ist die Intention dieses Relativierungsversuchs islamischen Antisemitismus ein Problem. Aus linken und alternativen Kreisen möchte man mit diesem Hinweis, dass nicht muslimischer, sondern deutscher, also hausgemachter Antisemitismus das Problem ist, verhindern, dass Rechtspopulisten in die Hände gespielt wird. Da die gerne von einem „importierten“ Antisemitismus sprechen, wie jüngst Beatrice von Storch im Bundestag. Aber: Zum einen ist es nicht so, dass Rechtspopulist:innen aufhörten, Antisemitismuskritik für ihre Fremdenfeindlichkeit zu instrumentalisieren, nur weil man auf der politischen Gegenseite ein Problem zu verkleinern sucht. Und zum anderen bedeutet die Ignoranz gegenüber ideologischen Problemen innerhalb einer Community, die Menschen in ihr nicht ernst zu nehmen. Denn wer Menschen ernst nimmt, betrachtet sie als verantwortliche und zu Aufklärung und Reflexion befähigte Einzelwesen und spricht entsprechend Probleme an, die sie verursachen. Antisemitismus hier zu relativieren oder zu ignorieren, ist daher nicht nur falsche Rücksicht - das zu tun, hat selbst einen rassistischen Zug.
Das ganze Ausmaß erkennen
Nun haben alle Statistiken und Umfragewerte ihre methodischen Probleme und eine Opferumfrage ist nicht das gleiche wie ein polizeilich erfasster Datensatz. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. Von Interesse bei der Erfassung antisemitischer Straftaten kann doch nur sein: was hilft, sie zu verhindern? Das Verschweigen einer konkreten kulturellen Ausgestaltung von alltäglichem Antisemitismus sicherlich nicht. Und Antisemitismus in muslimischen Communities ernst zu nehmen und zu problematisieren, bedeutet weder, dass alle Muslime antisemitisch sind, noch mindert es im Geringsten das Ausmaß des hausgemachten, rechtsextremen Antisemitismus. Es zeigt zum einen den Korrekturbedarf der Begrifflichkeiten auf Behördenseite auf und zum anderen die ganze Breite des Engagements, das gegen ihn aufzubringen ist.