Gesellschaft der Vereinsamten
Julia Meinel und Charlotte Bahlmann aus der Stadt Winsen an der Luhe haben das Projekt „Jung hilft Alt“ entworfen und in die Praxis umgesetzt. Dabei geht es darum, dass Jugendliche Senioren in ihrem Zuhause auf empathische Weise mit digitalen Problemen helfen. Hierzu werden im Rahmen des Projekts einerseits Jugendliche im Bereich der Seniorenunterstützung und andererseits Senioren im Umgang mit digitalen Medien geschult.
Mit ihrem Projekt haben Meinel und Bahlmann den vom niedersächsischen Ministerium für Soziales ausgerufenen Ideenwettbewerb „Gemeinsam nicht einsam - Gute Initiativen gegen Einsamkeit“ gewonnen. Die Preisverleihung fand am 27. November in Hannover statt. Im Rahmen des Ideenwettbewerbs wurden niedersächsische Konzepte und Projekte gesucht, die geeignet sind, betroffenen Menschen zu helfen, auch präventiv, und Wege aus der Einsamkeit aufzeigen.
Antrieb der Leistungsgesellschaft
Einsamkeit ist nicht das gleiche wie Alleinsein. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, das von den Betroffenen als schmerzhaft wahrgenommen wird. Das Alleinsein ist im Unterschied zur Einsamkeit kein innerlicher, subjektiver, sondern ein äußerlicher, objektiver Zustand: Durch reine Beobachtung ist erkennbar, ob ein anderer Mensch gerade allein ist oder nicht. Häufiges Alleinsein kann aber zu Einsamkeit führen. Alleinsein kann Folge einer Entscheidung sein, muss es aber nicht. Alleinsein ist zugleich aber auch strukturell in der privatarbeitsteiligen Tauschgesellschaft angelegt, in der erst einmal jeder Arbeitnehmer auf sich allein und in Konkurrenz zu anderen Einzelnen gestellt ist. Alleinsein ist Voraussetzung, Resultat und Antriebskraft der Leistungsgesellschaft.
Da Leistung sich aber immer weniger auszahlt und dem Alleinsein die Belohnung abgeht, wird Einsamkeit für viele Menschen ein bekanntes Gefühl, und das ganz unabhängig davon, ob sie eine Beziehung haben oder mit Familie und Freunden verbunden sind. Das ist unter anderem das Ergebnis einer #NDRfragt-Umfrage, an der vom 21. bis zum 25 November rund 16.300 Menschen aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen teilgenommen haben. 37 Prozent der Befragten gaben an, sich oft oder manchmal einsam zu fühlen. Bei jüngeren Menschen ist dieses Gefühl mit insgesamt 56 Prozent stärker verbreitet als bei den Befragten ab 30 Jahren (33 Prozent). Auffällig ist außerdem, dass Frauen spürbar stärker regelmäßig von Einsamkeit betroffen sind als Männer (43 Prozent gegenüber 33 Prozent), junge Frauen insgesamt häufiger als junge Männer. Auch bei älteren Befragten zeigt sich dieser Trend. Frauen ab 70 fühlen sich häufiger einsam als Männer im gleichen Alter.
Die einsame Jugend
Diese Ergebnisse sind zwar nicht repräsentativ, wie der NDR mitteilt. Sie werden aber vom Einsamkeitsbarometer 2024, das das 2022 gestartete „Kompetenznetz Einsamkeit“ für die Bundesrepublik erstellt hat, bestätigt.
So konstatiert auch das Barometer, dass mehr Frauen als Männer und mehr Jugendliche als Ältere einsam sind. Im ersten Pandemiejahr 2020 lag der Anteil von Menschen mit erhöhten Einsamkeitsbelastungen bei den 18- bis 29-Jährigen 9 Prozentpunkte - und damit signifikant - höher als bei den Personen über 75 Jahre. Und sie verharren nach der Pandemie auf einem höheren Niveau als davor.
Julius Mackenberg, der Sprecher des Kreisschülerrats Osterholz, weiß, was das konkret bedeutet. Die Schülerinnen und Schüler aus den sogenannten Corona-Jahrgängen hätten keine stabilen Freundschaften aufbauen können, was ihnen erschwere, Anschluss zu finden und sich in Gruppen zu integrieren.
Aber nicht nur das Pandemie bedingte Homeschooling sei ein Grund für Einsamkeit unter Jugendlichen. Auch der Leistungsdruck in der Schule und Social Media seien Risikofaktoren für die Vereinsamung. „Viele neigen dazu, sich ständig mit anderen zu vergleichen und fühlen sich ausgeschlossen, wenn sie bemerken, dass andere viel unternehmen und Freude haben“, so Mackenberg. Positiv sei aber, dass sowohl die Schulleitungen als auch die Regionalpolitik Einsamkeit unter Jugendlichen als Problem erkannt hätten.
Die Verschlossenheit nimmt zu
Insgesamt hält das Barometer aber einen Rückgang der Einsamkeitsbelastung der deutschen Bevölkerung zwischen 1992 und 2017 fest. Nach einem starken Anstieg der Einsamkeitsbelastung im ersten Pandemiejahr 2020 (2017: 7,6 %; 2020: 28,2 %) sinken die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2021 (11,3 %) bereits wieder. Dieser Trend ist jedoch nicht bei allen Bevölkerungsgruppen gleich. Während sich die Einsamkeitsbelastung bei den über 75-Jährigen auf Vor-Pandemie-Niveau einpendelt, bleibt sie bei den 30- bis 50-Jährigen und den 51- bis 75-Jährigen auf einem signifikant höheren Niveau.
Wichtig ist, dass hohes Alter allein nicht als Risikofaktor für Einsamkeit gilt. Sie wird begünstigt durch eine Ansammlung von Lebensereignissen, die mit zunehmendem Alter häufiger auftreten. Dazu zählen laut der Einsamkeitsforscherin Prof. Dr. Maike Luhmann der Verlust von Lebenspartnern und Freunden, gesundheitliche Einschränkungen sowie gesellschaftliche Einschränkungen wie Altersarmut und Altersdiskriminierung.
Das bestätigt auch der Vorsitzende des Osterholzer Seniorenbeirats, Harry Schnakenberg. Wer einen Verlust von Partnern erlebt hat und gesundheitliche Einschränkungen erleidet, bleibe oft „mehr alleine zu Hause und grübelt vor sich hin.“ Schnakenberg nehme auch eine Zunahme von Verschlossenheit unter Senioren wahr, die skeptisch gegenüber Freizeitangeboten werde lasse. Tragischerweise, da solche Angebote, die auch das „Kompetenznetz“ präventiv empfiehlt, Einsamkeitsbelastungen vorbeugen können. Entsprechend bietet die Seniorenbegegnungsstätte viele Angebote. Wer jedoch von Altersarmut betroffen ist, mag oder kann sie nicht wahrnehmen. So gehörten bezahlbarer Wohnraum und eine Verbesserung der Aufklärung über monetären Zuschüsse für Senioren für Schnakenberg zu einer umfassenden Einsamkeitsprävention.
Bedrohte Demokratie
Weitere über die NDR-Umfrage hinausgehende Ergebnisse des Barometers sind, dass Menschen in vulnerablen Lebenslagen, wie Pflegearbeitende, Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderungen, Migrations- und Fluchterfahrungen, besonders häufig von Einsamkeit betroffen sind und Bildungsgrad und soziale Beziehungen als sogenannte Resilienzfaktoren gelten.
Einsamkeitsbekämpfung, so lässt sich aus den Ergebnissen schließen, lässt sich nicht allein von Ehrenamtlichen bewerkstelligen, auch wenn das Ehrenamt als Ort der Begegnungen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die Bekämpfung von Einsamkeit, so die Empfehlung des „Kompetenznetzes“ muss integriert werden in Sozial-, Geschlechter-, Inklusions- und Bildungspolitik.
Daran müsste eine demokratische Gesellschaft ein unmittelbares Interesse haben, denn wer einsam ist - auch das belegt das Barometer - vertraut weniger demokratischen Institutionen und tendiert mehr zu Verschwörungsglauben und populistischen Positionen als weniger einsame Menschen. Gerade weil rechts- und linkspopulistische Politik das Versprechen auf eine umschließende Gemeinschaft machen, sind Vereinsamte für sie besonders ansprechbar. Es gibt aber auch Hoffnung. Denn wer auch zufrieden allein sein kann und seine Ungebundenheit nicht nur als gesellschaftlichen Anpassungsdruck erfährt, der ist nicht nur weniger ansprechbar für populistische Politik. Er könnte, so legt es die kritische Sozialpsychologie dar, in seiner Ungebundenheit erkennen, dass die Erfüllung des Bedürfnisses nach Gemeinschaft, das in der Leistungsgesellschaft entsteht, ebenso eine Privation ist wie die Einsamkeit. - So widersprüchlich gestaltet sich die individualistische Tauschgesellschaft.