Patrick Viol

Klimagerechtigkeit ist nicht wählbar

Der Verein „Konzeptwerk neue Ökonomie“ hat die Wahlprogramme der fünf demokratischen Parteien im Hinblick auf das Ziel Klimagerechtigkeit analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass es am 26. September nicht wählbar ist.
Keine Partei plane mit einem CO2-Budget für Deutschland, mit dem die 1,5 Grad-Grenze eingehalten werden kann, so das Konzeptwerk.

Keine Partei plane mit einem CO2-Budget für Deutschland, mit dem die 1,5 Grad-Grenze eingehalten werden kann, so das Konzeptwerk.

Selbst angesichts der Dürren, Überschwemmungen und Brände und der erneut vom Weltklimarat IPCC bestätigten Dramatik der drohenden Klimakatastrophe hätten die Parteien CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke es nicht geschafft, Wahlprogramme aufzustellen, mit denen sich Klimagerechtigkeit erreichen lasse. Keine Partei plane mit einem CO2-Budget für Deutschland, mit dem die 1,5-Grad-Grenze eingehalten werden kann. So lautet das Ergebnis der Wahlanalyse des gemeinnützigen Vereins „Konzept neue Ökonomie“. „Wir kommen in der Analyse zu dem Schluss, dass eine klimagerechte Politik nicht zur Wahl steht, die weitere Klimazerstörung hingegen schon“, so Kai Kuhnhenn, einer der Autoren der Analyse. „Denn aus einer Perspektive, die sowohl die Klimawissenschaften als auch die vom Sachverständigenrat für Umweltfragen errechneten Emissionsbudgets wirklich ernst nimmt und sich konsequent am Maßstab globaler Klimagerechtigkeit und der Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze orientiert, wird deutlich: Auch die weitgehendsten Wahlprogramme haben zwar in Teilen ambitionierte Ziele, aber auch zahlreiche Leerstellen, was den notwendigen sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft betrifft.“
 
Mangelhafter Diskussionsrahmen
 
Die Programme der Parteien werden anhand des von ihnen angenommenen verbleibenden Klimabudgets, ihren Vorschlägen für einen grundlegenden Umbau der Wirtschaft sowie ihren konkreten Ideen zur Entwicklung von Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Wohnen&Gebäude und Landwirtschaft analysiert.
Zudem wurde auch der Rahmen betrachtet, in dem Klimapolitik von allen Parteien diskutiert wird. Dabei kamen die Analytiker zu dem Resultat, dass er nicht hinreichend sei, um eine klimagerechte Politik zu betreiben. Die Klimapolitik habe zwar auf der rhetorischen Ebene einen höheren Stellenwert erlangt, die Ziele und Maßnahmen seien jedoch nicht ausreichend. „Klimaneutralität bis 2045 oder 2050 ist nicht mit Klimagerechtigkeit und geteilter Verantwortung weltweit vereinbar, auch 2035 oder 2041 bedeuten aus heutiger Sicht schon die Überschreitung klimagerechter Budgets“, wie es in der Analyse heißt.
Für Deutschland beträgt ein solches Budget, welches mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln mit einer Erderwärmung von 1,75 Grad kompatibel ist, ab 2020 noch maximal 6,7 Gigatonnen CO2-Ausstoß pro Jahr. Um die Erderwärmung aber mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit auf die dringend notwendigen 1,5 Grad zu begrenzen, dürften in Deutschland ab 2020 jährlich nur noch 4,2 Gigatonnen CO2 ausgestoßen werden. Die Grünen geben in ihrem Wahlprogramm aber ein verbleibendes Budget von 6,6 Gigatonnen CO2 ab 2020 an. Die anderen Parteien geben gar kein Budget an.
Dementsprechend machen zwar alle Parteien Vorschläge, wie Schlüsseltechnologien ausgebaut und gefördert werden können. Maßnahmen aber zum vom Verein als notwendig erachteten Rückbau von klimaschädlichen Industriezweigen und Wirtschaftsbranchen würden fehlen, wie die Autoren Kai Kuhnhenn, Matthias Schmelzer und Lasse Thiele beklagen.
Folglich wird viel auf neue Technik gesetzt. Wie aber die Gesellschaft von ihrer grundsätzlichen Einrichtung her erneuert werden müsste, darüber lasse sich in den Wahlprogrammen - abgesehen vom linken - nahezu nichts finden. Kritisch sehen die Autoren folglich das Vertrauen der Parteien in die lenkende Wirkung des Marktes, der durch den CO2-Preis beeinflusst werden soll. Auch hier bilde die Linke eine Ausnahme. Kritisiert wird hierbei, dass wenig auf politische Lenkung gesetzt, stattdessen aber versucht würde, beim ökologischen Umbau Deutschland als führenden Industriestandort zu erhalten. Ernst zu nehmende Klimapolitik und eine auf Profitmaximierung zielende Wirtschaftspolitik schlössen sich aber aus, so die Überzeugung des Konzeptwerks.
„Die meisten Parteien wollen Klima und Wirtschaft durch technische Lösungen versöhnen. Das heißt beispielsweise elektrische Pkw, Elektrifizierung und Wasserstoff marktkonform fördern und ausbauen und sich damit im internationalen Wettbewerb durchsetzen - die Verheißung des grünen Wachstums, bei dem alle gewinnen“, erklärt Ronja Morgenthaler, ebenfalls Mitarbeiterin im Konzeptwerk Neue Ökonomie. Dabei würden aber wissenschaftliche Analysen ignoriert, die nachweisen, dass sich Wirtschaftswachstum und Treibhausgasausstoß nicht in ausreichendem Umfang entkoppeln lassen. Auch die Auslagerung der sozialen und ökologischen Kosten von ‚grünem Wachstum‘ in den globalen Süden spielten allenfalls in den Wahlprogrammen marginal eine Rolle.
 
Weiter so oder grüner Anstrich
 
Die Programme von CDU/CSU und FDP sähen laut Analyse keine wesentlichen Veränderungen vor und setzen auf Marktkräfte und eine „entfesselte“ Wirtschaft. „Die Klimakrise sowie soziale Probleme sollen nebenbei durch Marktmechanismen und Technologie gelöst werden“, heißt es.
 
Die Grünen setzten mit der sozial-ökologischen Marktwirtschaft auf grünes Wachstum, mit zum Teil klaren Vorstellungen der notwendigen Maßnahmen und dem Einbezug sozialer Belange. Das Programm gehe aber nicht über klassische Ideen einer ökologischen Modernisierung hinaus und hänge „letztendlich an den illusorischen Versprechungen eines „grünen“ Kapitalismus.“
 
Die SPD halte im Wesentlichen am Bestehenden fest - es gebe keine Offenheit z. B. für allgemeine Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung von Arbeit, obwohl dies sozialdemokratische Kernpositionen fürs 21. Jahrhundert sein könnten. Darüber hinaus gibt es „viele unverbindliche Absichtserklärungen für wichtige Veränderungen, doch die Maßnahmen sind ungenügend und unkonkret.“
 
Die Linke wolle eine grundlegende Veränderung der wachstums- und profitorientierten Gesellschaftsstrukturen. An vielen Stellen nehme das Programm Forderungen für globale Klimagerechtigkeit auf, es fehlten aber ausreichend konkrete Maßnahmen. Außerdem werde das Dilemma zwischen dem angestrebten Erhalt aller Industriearbeitsplätze und dem notwendigen industriellen Rückbau nicht gelöst.
 
Was es braucht
 Ist es also egal, welche Partei man aus klimapolitischer Perspektive am Sonntag wählt? Nein, sagen die Expert:innen. Am Ende der kommenden Legislaturperiode wird die Hälfte des für die Begrenzung der Erderwärmung entscheidenden Jahrzehnts verstrichen sein. Allenfalls Grüne und Linke verliehen - wenn sie mitregierten - zumindest die Hoffnung, dass Klimagerechtigkeit als Ziel der nächsten Regierung ernst genommen werden könnte. Aber ohne eine grundlegende sozial-ökologische Transformation der Ökonomie von einer auf Konkurrenz zu einer auf Kooperation basierenden Wirtschaft, die ohne eine kapitalismuskritische Klimabewegung nicht zu haben sei, würde jene Hoffnung keine Wirklichkeit.


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