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Kognitive Dissonanzen

Wie verbindet man das Leben einer Pionierin der Kunst mit den Kämpfen um Freiheit und Gleichberechtigung heute? Anahita Razmi zeigt es in einer existenzielle Fragen aufwerfenden Videoinstallation, die Paula Modersohn-Beckers Werk und die iranische Frauenbewegung miteinander verknüpft.

Still aus der Arbeit A CASE OF MIMICRY: SHORTS BY ANAHITA

Still aus der Arbeit A CASE OF MIMICRY: SHORTS BY ANAHITA

Bild: Patrick Viol

Worpswede. ‚Paula Modersohn-Becker & ihre Weggefährtinnen. Der unteilbare Himmel‘ - so lautet der Titel der am 29. Juni eröffnenden Jubiläumsausstellung in Worpswede. Die Ausstellung widmet sich dem Leben und Schaffen der namensgebenden Malerin, lässt aber auch Begleiter:innen der Künstlerin und zeitgenössische Stimmen zu Wort kommen. Eine von ihnen ist die Hamburger Künstlerin Anahita Razmi, die in ihrem Werk die Arbeiten Modersohn-Beckers mit der Frauen-Leben-Freiheit-Bewegung (Jin, Jiyan, Azadî) im Iran verbindet, die als Reaktion auf den gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 im Iran entstand. Amini war eine kurdische Iranerin, die wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das staatliche Hidschab-Gesetz von der iranischen Sittenpolizei festgenommen, geschlagen und dabei tödlich verletzt worden ist.

Heutige und damalige Perspektiven

„Ich habe zunächst geschaut, wo sich Anknüpfungspunkte zwischen den Zeiten finden“, erklärt Razmi ihren Ansatz. Dabei habe sich Unterschiede, Motivationen und Absichten der Protagonisten befragt.

Mit ihrer Idee hat sich die Künstlerin im Frühjahr 2024 für ein Worpsweder Stipendium zu Modersohn-Beckers 150. Jubiläum beworben und sich am Ende gegen über 100 Mitbewerber:innen durchgesetzt. Im Sommer des vergangenen Jahres hat sie dann die Möglichkeit erhalten, drei Monate im Künstlerdorf zu leben, wo sich Razmi auf Paula Modersohn-Beckers Spuren begeben konnte.

„Anahita hat besonders durch ihren spannenden Blick auf die Gleichberechtigung, Freiheit und Selbstbestimmung der Frau überzeugt, welche sie in Kunst und Gesellschaft nicht nur eingehend beleuchtet, sondern heutige und damalige Perspektiven unmittelbar miteinander verknüpft“, erklärt Dr. Stefan Borchardt, Kurator der Großen Kunstschau. In ihrer zeitgenössischen Position betrachte sie vor allem, was die Etablierung als Frau in der Kunstwelt einst bedeutet habe und wie Paulas Arbeit mit gesellschaftlichen Frauenbewegungen interagiere. „Letztlich spricht die Stipendiatin damit Punkte an, die zunächst weit weg scheinen, aber heute aktueller denn je sind“, so Borchardt.

Kognitive Dissonanzen

Razmi ist eine Video- und Performancekünstlerin, die sich durch ihren experimentellen und hintergründigen Umgang mit Themen wie Kultur, Identität und Genderfragen auszeichnet. Ihre deutsch-iranische Herkunft prägt ihre künstlerische Praxis, in der sie Bilder und Narrative zwischen dem Nahen Osten und dem Westen hinterfragt und dekonstruiert. Razmi arbeitet stark mit Aneignung und Re-Inszenierung: Sie entnimmt kulturelle Symbole, nationale Objekte oder Werke anderer Künstler:innen ihrem ursprünglichen Kontext und platziert sie in neuen, oft unerwarteten Zusammenhängen. Dabei schafft sie kognitive Dissonanzen, die gesellschaftliche Normen und etablierte Werte kritisch beleuchten.

Ihre Arbeiten sind interdisziplinär und umfassen Videos, Performances, Fotoserien sowie textile und räumliche Installationen. Humor und Ernsthaftigkeit stehen oft nebeneinander, wie etwa in Werken wie „Burquini“, das Geschlechterrollen und Religion satirisch kommentiert, oder „Roof Piece Tehran“, das Tanz in einem verbotenen Kontext inszeniert. Razmi nutzt Kunst als autonomen Raum für Perspektivwechsel und Reflexion, um politische Bedingungen, stereotype Bilder und kollektive Vorstellungen neu zu denken

„In meinem Schaffensprozess arbeite ich mich meist durch verschiedene Medien, schaue welche Vermittlungsform für meine Arbeit am meisten Sinn ergibt und hinterfrage dabei die restriktiven Systeme, welche Stimmen bewusst hörbar machen oder verstummen lassen“, erklärt die Hamburgerin.

Kollektive Erfahrung innerer Kämpfe

Für die Jubiläumsausstellung ist so ein Video mit unterschiedlichen Elementen entstanden, das mit einer Arbeit im Außenraum kombiniert und die angesprochenen Themen ins Hier und Jetzt holen wird. „Spontan und ehrlich habe ich immer wieder meinen eigenen Bezug zu Paula Modersohn-Becker reflektiert und geschaut, wie das Lebenswerk der Künstlerin und meine eigene Herkunft meine Arbeiten beeinflussen“, berichtet Razmi.

Viel wollte die Künstlerin über ihre Arbeit für die Ausstellung noch nicht verraten. Nur soviel: Sie wage den Transfer zwischen verschiedenen Perspektiven, wie einst die Werke ihrer Worpsweder Vorgängerin. Das Publikum und ihre Reaktion auf das Kunstwerk denke die Hamburgerin meist in der Entstehung mit und mache aus dem ‚Ich zwischen den Orten‘ eine kollektive Erfahrung, die sich existenziellen Grundfragen des eigenen Seins widme. „Auch über Deutschland habe ich noch einmal ganz anders nachgedacht, als ich für meine Videocollage Interviews mit Bekannten und Fremden geführt habe“, resümiert Anahita Razmi. Besonders die Auswahl iranischer Stimmen sei dabei eine Herausforderung gewesen.

„Anahitas Werk lässt Betrachter:innen am Ende mit der Frage zurück, wie man selbst mit Paulas inneren Kämpfen und äußeren Problemen umgegangen wäre oder heute umgeht“, so Philine Griem, künstlerische Leiterin der Künstlerhäuser Worpswede. Razmis Arbeit werde man in einem Raum der Kunstschau präsentieren, der wie geschaffen für das aufwendige Videoprojekt der Künstlerin sei, freut sich Borchardt. Für ihre Position im Außenbereich setze man wiederum auf die Kooperation mit dem Museumsverbund, der damit einmal mehr die Zusammenarbeit in der Gemeinde Worpswede betone. Razmi selbst wird am Tag der Ausstellungseröffnung ebenfalls im Künstlerdorf zugegen sein.

 


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