Kommentar: Der Hass aufs Glück ist der Anfang
In der Abschaffung der gesellschaftlichen Bedingungen, die den Nationalsozialismus und die Shoah ermöglichten, läge die reelle Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit. Doch bislang ist die Gesellschaft nicht nach vernünftigen Maßstäben eingerichtet worden, die unnötiges Leiden verhinderten. Sie trägt daher nach wie vor das negative Potential der Barbarei in sich. So ist man aufs Gedenken der Geschichte und aufs Erinnern der Opfer verwiesen, um in dieser Gesellschaft zumindest einen subjektiven Einfluss auf Denken und Handeln auszuüben, „dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“, wie es der Philosoph und Kritiker Theodor W. Adorno einst formulierte. Die Gefahr hierbei ist jedoch, dass das Gedenken im zeremoniellen Ritual erstarrt, sodass Denken und Handeln von ihm nicht mehr berührt werden. Auf diese Möglichkeit der Erstarrung hat jedes Gedenken; auf dieses Leerlaufen des Erinnerns haben gedenkpolitisch Engagierte stets zu reflektieren. Andernfalls riskieren sie die Möglichkeit, dass das Gedenken paradoxerweise zu einer Aussöhnung mit der Geschichte führt, anstatt ihr gegenüber den Widerspruch wachzuhalten.
Eine Aufgabe des wachen Bewusstseins ist es, den Anfängen der Wiederholung des Grauens zu wehren. „Wehret den Anfängen“ heißt es daher immer dort, wo Antisemit*innen und Rassist*innen ihre Ressentiments in den Äther absetzen. Doch lässt sich deren antisemitisches Prusten und rassistisches Pusten als Ausruck eines Anfangs begreifen? Eher nicht. Wer antisemitischen Hass verbreitet, der begeht nicht wie ein Kleinkind seine ersten stolpernden Gehversuche in Richtung Menschenverachtung. Er ist bereits Teilnehmerurkundenanwärter bei den Bundesjudenhassspielen.
Das Grauen beginnt dort, wo Menschen sich aus gesellschaftlicher Ohnmacht heraus mit Macht schlechthin identifizieren und ihr eigenes Unglück auf andere projizieren, um es an ihnen verfolgen zu können. Solches Verhalten: dieser Hass auf das Glück anderer ist es, was der Wiederholung der Barbarei einen potentiellen Anfang bieten kann. So sollte man dieser Tage, während der Corona-Pandemie, um der Anfänge im Sinne Adornos zu wehren, weniger den Faschismus auf Seiten des Staates und in den durchaus vernünftigen Einschränkungen zum Schutz der Schwachen suchen, wie die besonders Wachsamen, aber doch eher Kurzsichtigen unter uns. Vielmehr sollte man einen kritischen Blick auf das Verhalten jener werfen, die im ohnmächtigen Begehren nach Macht nach dem Hörer greifen und im Verdruss über die Mitmenschen im eigenen Haushalt die Polizei rufen, weil es Menschen um sie herum gibt, die das Glück haben, mit Menschen zusammen zu wohnen, die sie nicht verachten, sondern mit denen sie lachen, tanzen, trinken und spielen.