Mehr Freiheiten für Geimpfte
In Deutschland gibt es weder eine gesamtgesellschaftlich gelebte Tradition noch einen emphatischen Begriff von Solidarität. Was hier primär das Verhältnis der Menschen zueinander bestimmt, das ist der mal mehr, mal weniger bewusste, ambivalente Wunsch, dass es allen gleich schlecht geht. Das zeigt sich nicht zuletzt bei jedem Bahnstreik. Dann nämlich wird hierzulande - nicht wie z. B. in Frankreich, wo Streiks entweder gleichgültig hingenommen oder bestenfalls durch Teilnahme unterstützt werden - rumgehackt und gemosert. Wer hier auf Kosten anderer aufmuckt und von seiner Freiheit und seinem Recht Gebrauch macht, für seine Interessen einzustehen, gegen den wird mit Leidschaft gewettert. Eben deshalb, weil der Streik zu momentanen persönlichen Einschränkungen bei jenen führt, die vom Streik nichts haben. Was man in Deutschland deshalb nicht hinnehmen kann, weil die nach wie vor schicksalergebenen Deutschen von anderen Menschen, die ihre elende Situation nicht einfach hinnehmen, sondern an ihr etwas ändern wollen, annehmen, sie hielten sich für etwas Besseres. Das mochte man hier noch nie.
So hat in Deutschland seit jeher jedes individuelle Aufmucken, letztlich jedes individuierte Leben das Urteil „asozial“ ereilt. Nicht zuletzt deshalb, weil hier statt Solidarität letztlich immer nur Begriffe wie Gemeinschaft, Zusammenhalt und Gemeinsinn vorherrschend sind. Begriffe, die Dinge bezeichen, deren Zustandekommen, Aufrechterhaltung und Eigendynamik die Anpassung und Einschränkung des Individuellen wie Besonderen erfordern. (Daran krankte im Übrigen auch die deutsche Arbeiterbewegung, was man daran erkennen kann, dass sie dem NS nahezu keinen Widerstand leistete.)
Der Begriff Solidarität hingegen bezeichnet - bei all seiner unterschiedlichen und inflationären Verwendung - stets eine Haltung, die dem Schwachen, Verletzlichen und Zarten die Treue hält.
Diese Haltung resultiert aber nicht aus reinem Mitleid, sondern aus einem verfeinerten Mitgefühl, das nicht nur bei den Übeln des Lebens, sondern auch bei dessen Freude, Schönheit, Gesundheit und Freiheit mitempfindet.
So heißt Solidarität, dem so verletztlichen wie individuierten Einzelwesen aus der Idee heraus, dass es ein freies, angstloses und glückliches Lebens verdient hat, beizustehen und nötigenfalls für die Abwehr seiner Bedrohung auch persönliche Einschränkungen willentlich in Kauf zu nehmen. Entsprechend bedeutet in unserer pandemischen Welt Solidarität, zum einen die Rückgabe von Freiheiten an Geimpfte zu unterstützen und nicht, dass diese sich unnötig weiter einschränken. Wer gar letzteres fordert, wie fast 50 Prozent der Deutschen, hielte den Einschränkungen und nicht dem Indiviuum die Treue. Das kann man zwar machen, das hat aber mit Solidarität nichts zu tun, sondern bewiese nur die eigene deutsche Unfähigkeit zum Mitfreuen.
Und zum anderen heißt Solidarität, für den Wegfall der Impfpriorisierung zu fordern, dass die Kommunen den Schwächsten: den Armen einen Vorrang bei der Impfung einräumen. Auch wenn das bedeutet, dass man sich selbst, der Homeoffice, keine Kinder und einen eigenen Garten hat, deshalb noch etwas länger einschränken muss.