Paradox und Vorurteil
Alain Finkielkraut, 1949 in Paris geboren, zählt zu den bedeutendsten französischen Denkern der Gegenwart. Der Sohn polnisch-jüdischer Holocaustüberlebender hat sich als Philosoph und Essayist einen Namen gemacht. Seine Schriften befassen sich mit Erinnerungskultur, der Erosion historischer Urteilskraft, Bildung und den Grundlagen einer liberalen Gesellschaft.
Seine deutlichen Positionen, etwa zur Multikulturalität und (postmoderner) Identitätspolitik, haben Finkielkraut zu einem streitbaren Intellektuellen gemacht, der gleichermaßen Zustimmung und Widerspruch erfährt.
1982 schreibt er seinen Essay „L‘avenir d‘une négation. Réflexion sur la question du génocide“ (dt. Zukunft einer Negation. Überlegungen zur Frage des Genozids). Der Literaturwissenschaftler Robert Faurisson hatte 1980 mit seinem Buch „Mémoire en dèfense“ eine anhaltende Kontroverse in der französischen Öffentlichkeit ausgelöst. Er hatte die Behauptung aufgestellt, die Gaskammern von Auschwitz seien eine Propagandalüge des Zionismus gewesen, und die Vernichtung der Juden habe Adolf Hitler niemals beabsichtigt. Der international bekannte linke Intellektuelle Noam Chomski schrieb für Faurisson das Vorwort. Diese Verbindung nahm Finkelkraut zum Anlass, die ideologische Relativierung der Singularität der Shoah seitens scheinbar progressiver Kräfte zu analysieren. Sein Essay, den der Freiburger Ca ira Verlag nun unter dem Titel „Revisionismus von links. Überlegungen zur Frage des Genozids“ veröffentlichte, entfaltet nicht nur 40 Jahre später vor dem Hintergrund linker Hamasfreunde und deren inflationären Gebrauchs des Genozidbegriffs - eine erschreckende Aktualität. Es legt auch die Komplexität des Judenhasses dar, die im europäischen Holocaustgedenken fatalerweise allzu oft untergeht.
Mit freundlicher Genehmigung des Ca ira Verlags drucken wir zum Holocaustgedenktag das Kapitel „Vorurteil und Paradox“.
Vorurteil und Paradox
Wachsamkeit tut not. Wir müssen uns mit der Geschichte auseinandersetzen, um zu verhindern, dass sie uns noch einmal widerfährt. Wachsamkeit aber ist auch der Trugschluss, welcher der nahen Zukunft das Antlitz der jüngsten Vergangenheit gibt. Indem sie Lehren aus der unmittelbaren Geschichte zieht, verurteilt die Wachsamkeit das Böse dazu, in seiner gestrigen Gestalt morgen wieder aufzutauchen. Wenn wir „Nie wieder Hitler!“ sagen und dabei den Judenhass und den militanten Faschismus in eins setzen, machen wir uns blind gegen die nichtfaschistischen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Wir werden von unserer eigenen Aufmerksamkeit getäuscht. Blindheit und Hellsichtigkeit machen bei dieser Schlaflosigkeit des Gedächtnisses gemeinsame Sache. Daher rühren die beiden vorherrschenden Haltungen in der Debatte um die Gaskammern. Entweder klagt man die Urheber des Revisionismus ohne Überlegung und ohne Beweise als Neonazis an, oder man wird, wenn diese Hypothese zusammenbricht, für deren Argumente empfänglich und sagt sich: das sind doch keine „Faschos“, die da reden, also haben sie vielleicht recht. Kurz, unerträglich ist allein der Rassismus der Herren, das elitäre Vorurteil, die zur Schau gestellte Abneigung gegen „minderwertige Wesen“. Doch sobald derselbe Hass sich in Form der Revolte oder der Klage Gehör verschafft, ruft er eine entgegengesetzte Reaktion hervor. Die Wirkung einer Aussage hängt nicht von ihrem Inhalt ab, sondern von dem, der sie vorbringt.
Im Mund eines Unterdrückten oder seines Bevollmächtigten wird eine rassistische Äußerung zu einer berechtigten Forderung, ja sogar zu einer revolutionären Handlung. So geht die rücksichtslose Kritik der Mächtigen mit einer grenzenlosen Nachsicht gegenüber allen Diskursen einher, die den Vermerk des Widerstands oder ganz einfach des Leidens tragen.
Der Rassismus der Nazis ist jedoch vielleicht nur ein rätselhaftes und außergewöhnliches Moment in der langen Geschichte des Antisemitismus. Zum ersten Mal haben die Herren sich offen als solche zu erkennen gegeben und in ihrer Ideologie die Überlegenheit einer Rasse gegenüber allen anderen ausdrücklich gerühmt. Die Folterer waren die Meister, die Juden Gewürm. Vormals betrachteten die Verfolger der Juden sich selbst als deren Opfer oder zumindest als Rächer desjenigen, den diese gekreuzigt hatten.
Wiewohl wir sie vollständig säkularisiert haben, hängen wir auch heute weithin noch einer christlichen Geschichtsauffassung an. Die leidenden Klassen und erniedrigten Völker bleiben Reinkarnationen des Mensch gewordenen Gottes. Die Juden wurden durch den Antifaschismus unbewusst christianisiert. Auf eine geradezu tierische Existenz herabgedrückt und zu Opfern grenzenloser Erniedrigung gemacht, gingen sie den Kreuzweg noch einmal und traten in die Fußstapfen des Erlösers. Ironie des Schicksals: die Juden wurden liebenswert, als sie zu Christus wurden. Ein grandioses Missverständnis hat sie populär gemacht (mitunter übrigens auch in ihren eigenen Augen). In ihnen feiert man ein Bild, das der Botschaft des Judentums selbst widerspricht. Sie waren gut, weil sie Opfer waren - wohingegen das Judentum diese sentimentale Vermengung von Leiden und Gerechtigkeit ablehnt, die das Opfer als solches wertschätzt.
„Leiden hat keine magische Wirkung. Der Gerechte, der leidet, ist nicht seines Leidens wegen wertvoll, sondern seiner Gerechtigkeit wegen, die dem Leiden trotzt.“ (E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum)
Es scheint, als sei die Revision des Genozids nur eines von vielen Anzeichen dafür, dass man gerade im Begriff ist, die Juden vom Kreuz abzunehmen. Während andere Passionen, aktuellere und akutere Leidensgeschichten zum Vorschein kommen, wird das Volk von Auschwitz zugunsten dieser neuen Opfer entmachtet. Und dann beschleunigt und verschlimmert der Staat Israel noch dieses Missgeschick. In einer fatalen Symmetrie werden die ehemals Gepeinigten nun ihrerseits zu Peinigern, und unsere christliche Geschichtsauffassung wendet sich gegen die Juden (nachdem sie sie für einen Moment umschmeichelt hat) und bringt erneut, ohne es zu wissen, uralte Verwünschungen gegen sie vor.
So eigenartig ist die Welt, in der wir leben. Das antisemitische Vorurteil zieht sich zurück (...), und zugleich nehmen die Juden weltweit ihre einstige Rolle eines herrischen und selbstsicheren Volkes wieder ein. Die Geopolitik gibt ihnen die dämonische Statur zurück, die sie im alltäglichen Leben verlieren. Im Alltagsdiskurs (zumindest in seinen geläufigsten Varianten) werden sie normalisiert, im historischen Diskurs jedoch verteufelt. Irgendwann wird es zu einer Überschneidung dieser beiden Entwicklungen kommen. Niemand kann vorhersagen, welche Form sie annehmen wird.
Es bleibt die beunruhigende Gewissheit, dass der Antisemitismus nicht, wie man gerne glauben möchte, auf eine verfahrene Dummheit, eine überkommene Vorstellung zusammenschrumpfen wird. Er ist keine Allergie, die frühere Generationen in den Köpfen der Kinder hinterlassen, keine Denkträgheit, die von Mund zu Mund oder Gehirn zu Gehirn weitergegeben wird. Man sollte den Israelhass (im weitesten Sinne) nicht auf die Kategorie des Vorurteils beschränken. Manchmal dient ihm das Vorurteil als Vehikel, doch manchmal, so wie jetzt, auch als Kontrastfigur.
Der mit seinen Tabus gepanzerte Kleinbürger verherrlicht das Ähnliche, verstopft alle Ausgänge und stellt sich eine homogene Welt vor, um in ihr das Wohlbefinden der Identität voll auszukosten. Der Faschist (wie in dieser Frage auch der Denker der neuen Rechten) schwelgt in seinen Rangordnungsträumen und verherrlicht gegen jede egalitäre Dekadenz den Abgrund zwischen Starken und Schwachen.
Ablehnung des Anderen und Verachtung des Demütigen, diese beiden rassistischen Reflexe werden von denen bekämpft, die heute den Antisemitismus neu erfinden. Denn sie ergreifen das Wort gegen das Gleiche und für das Andere, für das Opfer und gegen den Mächtigen.
Wir leben in der beständigen Schimäre des Bruchs und des Neuen, wir halten uns für unbeirrbar modern. Die Vorstellung aber, eine Verkündung von Neuheit reiche aus, um die Wirkung der alten Dinge auszuschalten, ist eine der großen Illusionen unserer Zeit. Das Gegenteil ist wahr: Kontinuität ist überhaupt nur möglich oder akzeptabel, wenn sie sich den Anschein eines Bruchs gibt. Indem er die Register wechselt, vom Vorurteil zum Paradox und von der herrschenden Ideologie zur Verteidigung der Beherrschten übergeht, reproduziert sich der Antisemitismus, ohne sich zu übertragen. So blüht mit gutem Gewissen und der Selbstverständlichkeit des Neuen das abgedroschene Thema der jüdischen Arroganz wieder auf. Wir erleben sogar einen geschichtlichen Moment, in dem diese Idee genug Kraft gewinnt, um retroaktiv zu werden. Wie kann ein heute so mächtiges Volk einst so schwach gewesen sein? In ausgeklügelterer Form lautet dieselbe Frage: Hat nicht diese Nation ihre Macht (wieder-)errichtet, indem sie ihr Unglück ausnutzte und alles Mitleid der Welt für sich beanspruchte?
Gewiss, zur Streichung der Gaskammern aus der Geschichte wird es nicht kommen. Die Wahrheit wird über die Leugnung siegen. Dieser substantielle Sieg wird jedoch weder der Revision des Genozids an den Juden noch den Klagen der mundtot gemachten Anderen oder der verkannten Opfer gegen diejenigen ein Ende setzen, die sich das Leidensmonopol angemaßt haben, um ihre Hegemonie zu sichern. Beide Haltungen nämlich folgen dem Gang der Geschichte.
Der Text wurde dem Design des Anzeigers angepasst.