Benjamin Moldenhauer

Rassischtisch strukturierter Raum

Ein junger Afroamerikaner wird in den 1960er Jahren unschuldig in eine Erziehungsanstalt eingewiesen – und erlebt dort ein rassistisches Gewaltregime, in dem sich die Geschichte Amerikas aus der Perspektive ihrer Opfer spiegelt.

Ethan Herisse spielt Elwood, dessen Perspektive auf die Geschehnisse durch den Film führt.

Ethan Herisse spielt Elwood, dessen Perspektive auf die Geschehnisse durch den Film führt.

Bild: Courtesy of Orion Pictures

Das ist auch so ein deutsches Kino- und Filmverleihrätsel: Warum ein Film, der gerade sujettechnisch in den Lauf der Zeit passt, bei der letzten Oscar-Verleihung für zwei Oscars nominiert war (und zwar für den besten Film und das beste adaptierte Drehbuch), hierzulande sang- und klanglos auf einer der lieblosesten Streaming-Plattformen auf Erden, Amazon Prime, versenkt wird.

Amerikas Gewaltgeschichte

The Nickel Boys ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Colson Whitehead, spätestens seit Underground Railroad (auch deren Verfilmung ist auf Amazon Prime zu sehen, in Form einer Serie) auch deutschsprachigen Lesern als einer der interessantesten und durchschlagendsten US-Autoren bekannt.

Wie auch in Underground Railroad taucht Whiteheads Text tief in die amerikanische Geschichte ein, die in seiner Rekonstruktion als Gewaltgeschichte erkennbar wird. Und „erkennbar“ heißt im Zusammenhang mit der Kunst, dass sie spürbar wird in ihrem Gewaltcharakter.

The Nickel Boys spielt im Florida der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts, zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung, aber vor ihren Erfolgen. In den staatlichen Institutionen herrscht Rassentrennung, und diese ist, wie Whiteheads Text schlüssig und historisch fundiert zeigt, zwangsläufig die Bedingung von Ausbeutung und Gewalt.

Der Mikrokosmos eines Jugendgefängnisses wird auch in der Verfilmung als fundamental rassistisch strukturierter Raum erkennbar, den es ohne eine durch und durch rassistisch strukturierte Gesellschaft außenrum nicht geben könnte.

Elwoods Traum und Absturz

Der junge Afroamerikaner Elwood Curtis ist klug und begabt und wird von seinem Lehrer für ein College empfohlen, ist inspiriert von den Idealen Martin Luther Kings und hegt Träume. Doch sein Leben nimmt eine Wendung, als er fälschlicherweise eines Verbrechens beschuldigt wird, weil er als Tramper in einen geklauten Wagen einsteigt – wofür ein weißer Jugendlicher nicht einmal eine Verwarnung bekommen hätte.

Elwood wandert in den Jugendknast, die Nickel Academy, die sich nach außen hin als Besserungsanstalt geriert, eigentlich aber ein Arbeitslager ist, in dem die schwarzen Insassen Knochenarbeit leisten und die weißen ein vergleichsweise bequemes Leben führen. Hinter der Fassade von Disziplin und Bildung verbirgt sich ein System der Unterdrückung: Während weiße Schüler vergleichsweise milde behandelt werden, erleben schwarze Jungen Gewalt, Missbrauch und Zwangsarbeit.

Hoffnung und Scheitern

Elwood ist, mit Martin Luther King im Ohr, Idealist, glaubt an Gerechtigkeit und versucht, sich gegen die Missstände zu wehren. Sein Freund Turner, der das System vor Elwood durchschaut hat, warnt ihn vor zu viel Hoffnung. Als Elwood Beweise für die grausamen Zustände sammelt und einen Fluchtversuch wagt, nimmt es ein schlimmes Ende. Und bis dahin lernen Zuschauerinnen und Zuschauer das Jugendgefängnis als Disziplinaranstalt kennen, in der die (schwarzen) Insassen körperlich bestraft werden – quasi ein Folterregime.

Dokumentarisch erzählt

Regisseur RaMell Ross kommt aus dem Dokumentarfilm, mit „Hale County This Morning, This Evening“ war er 2018 bereits für den Oscar nominiert. The Nickel Boys ist sein Spielfilmdebüt. Die Inszenierung ist denn auch dokumentarisch – mit einer Einschränkung. Ross zeigt das Geschehen über große Teile nicht nur in Rückblenden, sondern vor allem auch aus der subjektiven Perspektive seiner beiden Protagonisten Elwood und Turner. Das bringt uns zum einen dem Schicksal der beiden Helden nahe, zum anderen bereitet es einen Plot-Twist vor, der die einfache Aufteilung – hier der Zyniker, dort der Idealist – in Frage stellt.


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