Stigmatisiert, verfolgt, vergessen
„Kennst du schon Antiziganismus?“ – „Nein. Aber klingt interessant. Erzähl mir mehr davon.“ Kaum unwahrscheinlicher könnte das Szenario sein, wie jemand etwas über Rassismus gegen Sinti und Roma erfährt. Wer davon zum ersten Mal hört, wird sich eher mithilfe bekannter Stereotype vergewissern, um „wen“ es geht. Und das ist Teil des Problems: Oft werden antiziganistische Stereotype für die Wahrheit über Sinti und Roma gehalten.
Ein Rassismus mit langer Geschichte
Während andere Formen des Rassismus zunehmend als solche benannt und kritisiert werden, ist das bei Antiziganismus noch immer eine Ausnahme. Ein Grund dafür ist, dass er gewissermaßen zum Kulturerbe Europas gehört. Seit über fünfhundert Jahren grenzen die europäischen Gesellschaften Menschen aus, die sie als „Zigeuner“ (engl. „gypsies“) bezeichnen. Gemeint sind damit neben Sinti und Roma auch andere Minderheiten wie Jenische oder Travellers. Alle diese Gruppen weisen die Bezeichnung als stigmatisierend und historisch belastet zurück. Denn vom Mittelalter über die Neuzeit und den Nationalsozialismus bis in die Phase seiner Aufarbeitung hinein drohte denjenigen, die unter diese Rubrik fielen, Vogelfreiheit, Vertreibung, Inhaftierung oder Ermordung.
Frühe Ausgrenzung und strukturelle Entrechtung
Die Geschichte der Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum beginnt vermutlich im 14. Jahrhundert, als ihre Vorfahren aus dem Byzantinischen Reich einwanderten. Damals waren Wanderungsbewegungen eher die Regel als die Ausnahme. Doch während andere Bevölkerungsgruppen, die ungefähr gleichzeitig in Nordeuropa ankamen, längst als zugehörig gelten, werden Sinti und Roma oft noch immer als „Fremde“ angesehen. In der Epoche ihrer Einwanderung hing ein Leben in Sicherheit davon ab, dass man sich zur richtigen Konfession bekannte, Treue gegenüber dem Fürsten bewies und einen Platz in der Ständeordnung einnahm. Zu all dem gab man den Vorfahren der heutigen Sinti und Roma keine Chance. Sie durften weder einer Zunft beitreten noch Land erwerben. Ihr christliches Bekenntnis wurde angezweifelt, und früher oder später vertrieb sie jeder Herrscher unter Androhung von Folter oder Todesstrafe aus dem Territorium.
Das Märchen vom Nomadentum
Eine verdrehte Version dieser langen Ausgrenzungsgeschichte ist die Vorstellung, Nomadentum und Illoyalität gegenüber geltenden Gesetzen seien angeblich Teil der Kultur von Sinti und Roma. Erst verweigert man ihnen das Recht auf Niederlassung und Berufsausübung. Dann wirft man ihnen vor, auf mobile Gewerbe auszuweichen und den Behörden zu misstrauen, die sie stigmatisieren. Seit wenigen Jahren wird eine andere Version der Geschichte erforscht: Sinti und Roma betrieben geschätzte Dienstleistungen und Handwerke, dienten als Soldaten und sprachen neben ihrer Muttersprache Romanes immer auch die Sprachen ihrer Umgebung.
Vom Kaiserreich zur Vernichtungsbürokratie
Doch selbst im aufgeklärten 19. Jahrhundert sah man sie nicht als zwischen die Fronten von Konfessionskriegen, Modernisierung und Nationenbildung geratene Minderheit an. Lieber erzählte man sich Legenden vom freiheitsliebenden Volk ohne nationale Loyalität. Die Behörden des Deutschen Kaiserreichs trugen den Vermerk „Zigeuner“ in Personalpapiere ein und legten eine Kartei an, in der alle Sinti und Roma auch ohne Zusammenhang mit einer Straftat erfasst wurden. Diesen Aktenbestand nutzten die Nazis ab Beginn des Zweiten Weltkriegs für die Verhaftung, Deportation und Zwangssterilisation von Sinti und Roma.
Auch rassistische Sondergesetze waren keine nationalsozialistische Erfindung: Noch während der Weimarer Republik war in Bayern ein Gesetz verabschiedet worden, das Sinti und Roma als geborene Kriminelle einordnete. Die Nazis trieben die rechtliche Diskriminierung aber auf die Spitze, als sie 1935 in den Nürnberger Gesetzen „Zigeuner“ zur „artfremden Rasse“ erklärten. Dies war die Grundlage für die Ermordung von etwa einer halben Million Sinti und Roma in den Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Nach 1945: Verdrängung statt Verantwortung
Wie sehr Antiziganismus zum deutschen Kulturerbe gehört, zeigte sich auch nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Die polizeiliche Sondererfassung wurde fortgesetzt, der Genozid beschwiegen und die verlorene Staatsbürgerschaft nicht zurückgegeben. Wenn man Sinti und Roma überhaupt als Opfer der Nazis wahrnahm, legte man sich zurecht, sie seien als Kriminelle statt aus rassistischen Gründen verfolgt worden.
Es hat lange Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung gebraucht, bis in den 1990er Jahren in der Bundesrepublik der Mord an den Sinti und Roma als Menschheitsverbrechen wahrgenommen wurde.
Rostock-Lichtenhagen und die Gegenwart
Für die Überlebenden und Angehörigen gab es trotzdem kein Aufatmen. 1992 gingen mehrere hundert Deutsche in Rostock-Lichtenhagen mit rassistischen Anfeindungen und Angriffen unter anderem auf rumänische Roma los. Vier Tage lang stoppte die Polizei den Gewaltexzess nicht. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass Betroffene von Antiziganismus sich noch heute selten an die Polizei wenden. Daher gibt es seit 2022 mit der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) einen alternativen Anlaufpunkt. Sie dokumentiert antiziganistische Vorfälle, um das Bewusstsein für Antiziganismus in der Gesellschaft zu schärfen. Ungewiss ist jedoch, wie die MIA ihre Arbeit fortsetzen kann. Im kommenden Bundeshaushalt soll ein Großteil ihrer Mittel wieder gestrichen werden.
Anlässlich des internationalen Tags der Roma am 8. April lädt der Bremer Sinti-Verein zu den Tagen der Begegnung und des Erinnerns ins City Kino 46 und in die Stadtbibliothek ein. Das Programm umfasst Filme, Lesungen und Musik.

Haufenjagd per Genprobe
