Hurricane 2023: Durstig auf der XXL-Kirmes
Auf dem Hurricane war ich das erste Mal 2005 und danach war ich erst einmal durch mit dem Festival. Nicht wegen der üblichen Festivalstrapazen für Leib und Seele bestehend aus warmen Bier, Dixiklostress auf mehreren psychischen Ebenen, mangelnder Hygiene und Zelten. Sondern weil ich auf dem Hinweg in Scheeßel auf der Landstraße kurz vor dem Festivalgelände in eine Massenkarambolage geriet. Ich war der letzte von zehn Wagen, die sich alle nacheinander auffuhren. Irgendein Spaßvogel dachte, es wäre witzig, ohne Grund zu bremsen. War es nicht. Ich bin durch die Vollbremsung unter einen Camper geraten, dessen Stoßstange mir Autohaube und Kotflügel zerriss. Mit der Reparatur, Tickets und Verpflegung hat mich das Festival schließlich um 1.200 Euro gekostet. Das war es nicht wert. Mitnichten.
Musikalisch risikoarm
Ich weiß, der Unfall hat nichts mit dem Festival zu tun. Aber in der Abschlussbetrachtung kam ich zu dem Ergebnis, dass das Hurricane der Blechschaden unter den Festivals ist: Tut zwar nicht weh, aber richtig geil ist es auch nicht. Ungefähr wie die Musik von den Ärzten. Es ist insofern auch kein Wunder, dass diese Band, die nur noch ein schlechte Witze vertonender Leichnam der Musikindustrie ist, dem die Plattenfirma vergessen hat mitzuteilen, dass er längst tot ist, regelmäßig den Headliner gibt. Auch in diesem Jahr, am vergangenen Wochenende. Das zweite Mal, dass ich auf dem Hurricane war.
Der Grund meines Besuches war aber nicht das Line-up - das musikalische Konzept des Hurricanes ist wie die Heide, auf der es stattfindet, ziemlich platt und - wie die in geschmacklose Bermudashorts gesteckten Beine der meisten männlichen Festivalbesucher am dritten Tag - angestaubt. Obwohl es im Spektrum Indie bis Hip-Hop durchaus möglich gewesen wäre, wird hier musikalisch nichts gewagt. Das Line-Up erscheint wie der Soundtrack zur Politik der Landesregierung. Entsprechend denkt man bei den "Stars" des Line-Ups entweder verblüfft: Alter, die gibt es noch? (Billy Talent). Oder genervt: Warum gibt es die immer noch? (Peter Fox und Die Ärzte). Oder überrascht: Krass, ich dachte der Frontman wäre schon lange tot (Placebo). Oder enttäuscht: Deren neues Album ist aber eine Ton gewordene Mid-Life-Crisis (Muse).
Das Begehren bei Lacan
Der Grund meines Besuches war, dass ich - neben der Erstellung dieses Berichts samt Videomaterial - mit der 16-jährigen Tochter meiner Freundin Lena: mit Mathilda, einen für sie spannenden Tagesausflug machen wollte. Denn das bekommt das Hurricane hin: Menschen, die noch nie ein Festival besuchten, eine Ahnung davon zu vermitteln, was Festivals könnten. Es verhält sich wie mit dem Begehren nach Lacan: Gerade weil es nicht befriedigt werden kann, kommt es nicht zur Ruhe und treibt an. Wer also früh das Hurricane besucht, von einem Festival aber mehr erwartet als einen überdimensionierten Schützenfestplatz, der sich auf Nippes-, Fress-und Saufbuden beschränkt, wird in seinem Leben wahrscheinlich einige großartige Festivals besuchen. Zudem wollte ich Mathilda einen Einblick in meine Arbeit abseits des PCs geben. Also habe ich uns als Presse für den letzten Festivaltag akkreditieren lassen und sie vor dem Besuch gefragt, ob Sie nicht nur die Kameraassistenz übernehmen, sondern auch am Text mitschreiben möchte. Das wollte sie und fasste für mich und Sie, liebe:r Leser:in, ihre Eindrücke vom Festival insgesamt und den von ihr gesehenen Shows zusammen.
Dreist und lax
"Mein erster Eindruck vom Hurricane: bullenheiß und viel zu lange Schlangen", schreibt Mathilda. Dass sie Hitze und Organisation anspricht, kommt nicht von ungefähr. Auch mir fiel die Organisation des Festivals, aber auch die Dekoration als erstes negativ auf. War letztere kaum vorhanden (ein Riesenrad wurde aufgebaut, unterstrich aber einmal mehr den Kirmescharakter), wirkte erstere lax. Schattige Plätze, die nicht die wenigen Bäume boten, hat man vergeblich gesucht. Vor allem vor den Bars. Um etwas zu trinken zu bestellen, musste man im Schnitt locker 20 Minuten in der Sonne stehen. Sonnensegel wären das Stichwort gewesen. Auch für Regentage. Dann die Wasserstellen für kostenloses Wasser: Es waren zu wenige mit zu wenigen Hähnen. Auch hier: zu langes kreislaufgefährdendes Warten in der Sonne. Vielleicht war der Plan, dass man die Leute an die Bars zwingt. Diese unternehmerische Dreistigkeit anzunehmen, legt zumindest eine Aktion des Vorverkaufs nahe. Neben normalen Tickets für 200 Euro gab es noch Tickets für das nächste Jahr in einer "Hurricane Forest Box" für 369 Euro. Für Schlappe 170 Euro mehr bekam man dann eine Mütze, ein Poster und einen Rucksack aus den Bannern der diesjährigen Bühnen. - Apropos Griff ins Klo: Neben den Dixis, die bei dem Wetter ein besonderes Aroma verbreiten, konnten wir nur einen weiteren Toilettenwagen entdecken. Im Pressebereich gab es zum Glück zwei Dixis, die der Aufrechterhaltung der eigenen Würde nicht allzu viel Scheiße auf den Weg warfen.
BHZ und ein sexy Willie Tanner
Neben diesen beiden, hat Mathilda noch von zwei weiteren Highlights zu berichten, von BHZ und Edwin Rosen. BHZ war heiß, buchstäblich. Mit ballernden Beats, Feuer und sympathisch asozialen Texten wie: "Alle meine Freunde riechen morgens schon nach Bier", hat die Rapcrew aus Berlin eine ordentliche Show geboten und Party Stimmung inklusive Moshpits bis in die 1.000 Reihe entfacht, findet Mathilda. Auch Edwin Rosen fand sie sehr gut. Er sorgte für gute Stimmung und "zeigte auch persönliche Stärke, indem er daran erinnerte respektvoll miteinander umzugehen. Neben seinen gefühlvoll-mitreißenden Songs betonte er, wie wichtig es sei, aufeinander aufzupassen und setzte sich für die LGBTQ-Community ein." Etwas enttäuscht war sie von der Band The 1975. Die Band mit ihrem 80er Sound für pensionierte Studienräte sorgte zwar für einen Kontrast im Sonntagsprogramm, holte Mathilda aber nicht ab. Auch mich nicht. Auch wenn die Musik klang wie der Jingle der Serie Alf - meiner Lieblingsserie als Kind. Aber irgendwie klang jeder Song wie eine weitere Variante davon und langweilte mit der Zeit. Interessante Koinzidenz: Der Sänger Matty Healy sieht etwas aus wie eine junge, sexy Version von Max Wright bzw. Willie Tanner, dem Vater in Alfs Gastfamilie. Und zugleich wirkte er so, wie Mathilda beobachtete, als ob er das gleiche Problem hat wie Wright: "Der Sänger der Band schien nicht in bester Verfassung zu sein und nahm beherzt nach jedem Lied einen Schluck aus seinem Flachmann." (Taylor Swift soll sich vor kurzem von ihm getrennt haben.)
Flach war auch der Humor einiger alter betrunkener Männer, der lediglich "darin bestand, betrunken herumzugrölen", so Mathilda. Abseits von diesen Bermudashorts tragenden Ärtzefans waren die meisten Besucher:innen aber total entspannt und sind respektvoll miteinander umgegangen.
Wer bei aller Kritik nun glaubt, wir hatten keinen guten Tag, dem sei widersprochen. Es war ein wunderbarer Tag und bleibt eine schöne Erinnerung. Und wer weiß, welches Festival sich als nächstes Mathildas und meinen Augen und Ohren stellen muss.