Sind wir wieder verteidigungsbereit?
Auf Einladung der Gesellschaft für Sicherheitspolitik identifizierte Prof. Dr. Sven Gareis unter anderem hybride Kriegsführung als eine der größten Herausforderungen für die NATO.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt zu der traurigen Erkenntnis, dass ein massiver militärischer Konflikt in Europa wieder – oder immer noch – möglich ist. Wenn die Diplomatie aggressiven Ambitionen keinen Einhalt mehr gebieten kann, muss man diesen etwas entgegensetzen: Verteidigungsfähigkeit und -willen. Dass diese am besten in einem Zusammenschluss gleichgesinnter Staaten gelingen kann, dürfte eine Binse sein. Ist also die NATO zur Verteidigung ihres Bündnisgebietes tatsächlich in der Lage? Zu dieser Frage trug Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis kürzlich auf Einladung der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) im Kundenzentrum der EWE in Bremervörde vor.
Prof. Dr. Gareis ist u.a. ehemaliger leitender wissenschaftlicher Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und nun in der Abteilung Operationen im NATO-Hauptquartier in Brüssel tätig.
Abschreckung und Verteidigung
Nach dem NATO-Gipfel in Madrid im Juni dieses Jahres rückten die Kernaufgaben des Bündnisses wieder deutlich in den Mittelpunkt, nämlich Abschreckung und Verteidigung. Bereits nach der russischen Annexion der Krim-Halbinsel 2014 nahm das Thema Verteidigung wieder einen stärkeren Raum ein, die NATO-Gipfel in Wales im selben Jahr und Warschau 2016 dienten hierbei der Selbstvergewisserung unter den Bündnispartnern.
Bei der Vorstellung der NATO legte Gareis Wert auf die Feststellung, dass es sich bei ihr keineswegs um ein bloßes Militärbündnis handele, sondern dass unter den Vertragsstaaten der Primat der Politik gelte. „Das Militär setzt diese Entscheidungen dann um“, so Gareis. Man könne die NATO im Format als eine Dauer-Konferenz beschreiben, die im Laufe ihrer Geschichte bereits viele Wandlungen durchgemacht habe.
Laut Lord Ismay sei die NATO zunächst gegründet worden, um die Amerikaner bei der Stange, die Russen außen vor und die Deutschen am Boden zu halten. Nach der misslungenen Gründung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung richtete das Bündnis den Fokus auf die militärische Verteidigung unter Einschluss der neu gegründeten Bundeswehr. Lange Zeit war ihre Politik vom Kalten Krieg geprägt, um nach dessen vermeintlichen Ende sich mehr auf Krisenpräventionen und -einsätze zu konzentrieren. ISAF und Resolute Support in Afghanistan seien dabei die bekanntesten Missionen. Zahlreiche Programme und Kooperationen weltweit im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden mit internationalen Organisationen und Einzelstaaten zeugten von einem erweiterten Bündniszweck.
Defence Education in der Ukraine
Im letzten Strategiepapier war Russland noch ein Partner, sogar mit einem Botschafter-Sitz in der NATO, nun sei es jedoch wieder zu einem Gegner abgestiegen, den beispielsweise die baltischen Staaten und Polen schon lange fürchteten.
Die NATO habe nie etwas versprochen, so Gareis: „Viele Staaten wollten und wollen Mitglied werden!“. Die Ukraine sei indes noch kein Vertragsstaat, daher unterliege die Unterstützung für ihren Verteidigungskampf spürbaren Einschränkungen. Ob die NATO denn die Waffenlieferungen koordiniere, wollte ein Zuhörer in der anschließenden Diskussion wissen. Dazu Gareis: „Nein, nicht die NATO, aber die Mitgliedsstaaten in Einzelverantwortung.“
In der NATO ist Prof. Gareis in Sachen Defence Education (etwa „Verteidigungserziehung“) unterwegs. Hierunter fielen Aspekte demokratischer Kontrolle von Streitkräften, militärischer Führung und Entscheidungsfindung bis zum Aufbau eines effektiven Unteroffizierkorps. Dies geschah auch in der Ukraine, und Prof, Gareis ist sich sicher, dass – neben den Waffenlieferungen – diese nun Anstrengungen Wirkung zeigen.
NATO vor enormen Herausforderungen
Dabei stehe die NATO selbst vor enormen Herausforderungen. Zusammenhalt des Bündnisses, hybride Bedrohungen, die Ambitionen Russlands und Chinas seien nur einige von vielen. Die schwer adressierbaren Stiche hybrider Kriegsführung zwingen die NATO dazu neue Wege und Verfahren zu finden, um Frieden in Freiheit zu garantieren. „Waffen, die auf die Seele zielten“ nannte Gareis beinahe poetisch die Mittel, die dabei zum Einsatz kämen, um Zweifel an der Demokratie zu sähen und die Menschen in Angst zu versetzen.
Die Antwort der NATO sei: Schnelligkeit und Resilienz. Abgestuft sollen Militärkontingente mit aufsteigendem zeitlichem Vorlauf und Umfang einsatzbereit sein, neue Abteilungen seien gegründet worden, beispielsweise ein Center of Excellence zum Thema Klimawandel.
Die Ressourcen, Pläne und Einübungen seien von den Mitgliedsländern zu erbringen, und da warteten noch große Aufgaben auf die Bundeswehr und Rüstungsindustrie, die beide über Jahre ständig unter einem unglücklichen Zusammenspiel von militärischer und politischer Führung zu leiden gehabt hätten. „Wir haben die Friedensdividende als Gesellschaft gerne eingestrichen“, räumt Gareis selbstkritisch ein, „Sicherheit ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, so sein Appell.