Vater, Mutter, Kindl? - Bundesregierung will "begleitetes Trinken" abschaffen
Es ist nicht Gott, sondern John Barleycorn, der bei der Konfirmation in das Leben der Landjugend tritt. Hier ist es Brauch, dass der Konfirmierte zur lauwarmen Eierstichsuppe zum ersten Mal öffentlich Bier und Schnaps von seinen Eltern vor die Nase gestellt bekommt, um auf die vollwertige Mitgliedschaft in Gottes Gemeinde anzustoßen.
Das bestätigt auch Magdalena Windey, die bei der Diakonie Osterholz allein und mit gerade mal 19,5 Stunden für die Suchtprävention des ganzen Landkreises Osterholz zuständig ist. Im Rahmen des Programms „Klarsicht“ besucht sie die Klassen 7 und 8, um mit Jugendlichen u.a. über ihre Konsumerfahrungen zu sprechen und über die Gefahren des Trinkens aufzuklären. Dabei habe sie die Erfahrung gemacht, dass es hier, anders als z.B. in Bochum, wo sie vorher arbeitete, viel häufiger der Fall sei, dass 14-Jährige ihr erzählen, sie hätten bereits getrunken. Auch mit ihren Eltern, die sie im Rahmen von Schützen- und Feuerwehrfesten auch schon ziemlich betrunken gesehen hätten. Die Trinkkultur auf dem Land sei eine andere als in der Stadt: eine praktizierte Verharmlosung des Alkoholkonsums. Vernünftiger Umgang mit Alkohol sehe anders aus.
Laut Windel beruhe die Verharmlosung von Alkohol unter anderem auch darauf, dass der Staat bisher gesagt hat: Trinken ab 14 ist okay, wenn die Eltern dabei sind. Aktuell gilt nämlich: Im Rahmen des Jugendschutzgesetzes dürfen Jugendliche unter 16 Jahren weder Alkohol kaufen noch in der Öffentlichkeit konsumieren - allerdings ist der Konsum von Bier, Wein und Sekt in der Öffentlichkeit ab 14 Jahren gestattet, wenn die Jugendlichen in Begleitung eines Personensorgeberechtigten, z. B. Vater oder Mutter, sind.
Beim Vollrauschtrinken auf Platz 1
Dabei ist „begleitetes Trinken“ nicht weniger schädlich. Im Gegenteil - man fängt nur früher an, Hirn und Organe zu schädigen. Das sieht auch der Bundesgesundheitsminister so und will das begleitete Trinken abschaffen. Es sei gesundheitspolitisch sinnlos. Zudem hat die WHO angesichts anhaltenden „Bingedrinkings“, also Trinken bis zum Vollrausch, zu mehr Präventionsmaßnahmen aufgerufen. Deutschland liegt beim Vollrauschtrinken unter Jugendlichen auf Platz 1.
Rückenwind für sein Vorhaben bekommt Lauterbach neben der WHO unter anderem auch von den Gesundheitsministern aller Bundesländer, der Bundesärztekammer sowie vom Suchthilfeverband Blaues Kreuz. Und auch von Magdalena Windey.
Sie zwar keine Freundin von Restriktionen, sondern von Aufklärung und Bildung. Aber es gebe „überhaupt keine Notwendigkeit“ für den Staat, Trinken ab 14 Jahren gesetzlich als unproblematisch erscheinen zu lassen. Alkohol sollte ab 18 sein, ab 16 sei begleitetes Ausprobieren in Ordnung, so Windey. Ihr sei natürlich klar, dass die Abschaffung der Erlaubnis, ab 14 mit den Eltern zu trinken, nicht dazu führen werde, dass Jugendliche in dem Alter kein Interesse an Alkohol entwickelten. Aber es sensibilisiert Eltern, erst einmal Gespräche zu führen statt Gläser zu füllen.
Der Staat sollte sich mit dem Verbot aber nicht aus der Prävention zurückziehen, sondern im Gegenteil mehr Geld in sie stecken, so Windey.
Handlungsbedarf trotz gesunkener Zahlen
Dennoch kommt der Vorstoß zu einem merkwürdigem Zeitpunkt. Nicht nur die Zahl allkohltrinkender Jugendlicher ist auf einem Tiefstand. 1979 waren es noch 25 Prozent, die einmal in der Woche tranken, heute sind es laut BZgA 8,7 Prozent. Ebenso ist die Zahl wegen Alkoholmissbrauch stationär behandelter Jugendlicher auf einem Rekordtief. 2022 waren es unter den 14- bis 17-Jährigen 11.500 (Zum Vergleich: Im Verkehr kamen 28.500 Kinder zu Schaden.) 2012 waren es 26.700.
Doch Suchtexperten sehen Handlungsbedarf. Jeder Alkoholmissbrauch von Jugendlichen sei einer zu viel. Darüber hinaus sind junge Trinker zum einen impulsiver und enthemmter, aber gleichzeitig auch ängstlicher und depressiver. Die Jungen verursachten häufiger Unfälle und neigten zu Gewalt, Mädchen seien wegen des Alkohols häufiger Opfer von ungewollten sexuellen Handlungen, wie Rainer Thomasius, Leiter des Zentrums für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, erklärt. Außerdem sei es so, dass diejenigen, die früh mit Alkohol anfangen, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit später alkoholabhängig werden können.
Laut Niedersächsischer Ärztekammer sei der sogenannte problematische Konsum von Alkohol bei Jugendlichen im Vergleich zu anderen Suchtstoffen stark ausgeprägt. 11,3 Prozent der befragten Jugendlichen, jeder 9. also, wiesen ein problematisches Konsumverhalten in Bezug auf Alkohol auf. Bei Zigaretten und Cannabis waren dies jeweils nur 0,5 Prozent. „Wir müssen lernen, kritischer mit Alkohol umzugehen - insbesondere, wenn es um Jugendliche geht“, betont Hans Martin Wollenberg, Facharzt für Psychiatrie und Vorstandsmitglied der Ärztekammer. Begleitetes Trinken sei ein „völlig falsches Signal“.
Mehr nicht-trinkende Vorbilder
Auch Sandra Fricke aus Bremervörde, die lange alkoholabhängig war und inzwischen als Coach Menschen aus der Sucht hilft, weist auf die Gefahren von Alkoholkonsum in jungen Jahren hin. „Es ist absolut von Vorteil für die gesundheitliche Entwicklung eines Menschen so spät wie möglich Alkohol zu konsumieren. Daher wäre eine Änderung des Jugendschutzgesetzes eine logische Konsequenz“, sagt Fricke. Verbote würden zwar vermutlich keine Veränderung bewirken, dazu sei in unserer Gesellschaft das Nervengift Alkohol zu sehr allgegenwärtig. Sich rechtfertigen zu müssen, keinen Alkohol zu trinken gehöre leider zur Normalität, dabei wäre es genau andersrum sinnvoller.
„Es darf mehr coole Vorbilder geben, die ohne Alkohol und Co ganz selbstverständlich leben. Dazu gehören Eltern und das nahe Umfeld von Kindern, da diese das Verhalten Ihrer Bezugspersonen imitieren. Mehr Aufklärungsarbeit, besonders bezüglich Folgekrankheiten, und z.b. ein Werbeverbot würde ich mir unterstützend wünschen“, so Sandra Fricke.
Es geht nicht ums Trinken
Etwas anders sieht es Prof. Dr. Heiner Wenk, der bis 2017 die ärztliche Leitung der Klinik Lilienthal inne hatte. Dass Alkohol ein Zellgift ist, sei klar. Das lernt jedes Kind im Chemieunterricht. Er zweifelt daran, dass das - schwer durchzusetzende - Verbot begleiteten Trinkens zu weniger Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen führe. Nicht nur erzähle die Prohibition erzähle eine andere Geschichte. Auch ließen sich die alkoholbedingten Krankenhausaufenthalte schwerlich qualitativ auf begleitetes Trinken zurückführen.
Fragwürdig halte er auch den mit dem Verbot erfolgten „Eingriff in die elterliche Fürsorgepflicht“. Ähnlich sehen es drei Jugendliche aus Lilienthal. Zwei Freundinnen, Mila und Jana*, im Alter von 16 und 17 Jahren haben bereits vor ihrem 16. Geburtstag mit ihren Eltern mit einem alkoholischen Getränk angestoßen und halten das angestrebte Verbot „für eine Einschränkung“. In den Momenten, in denen sie mit ihren Eltern getrunken hatten, sei es ja „um eine Feier, einen besonderen Moment, nicht das Trinken selbst“ gegangen.
Till aus Bremen, 16, ist ebenfalls der Meinung, dass das betreute Trinken nicht verboten werden muss und es so bleiben kann, wie es gerade ist. Er selbst hat im Restaurant in Begleitung seiner Eltern mit 14 oder 15 nie Alkohol getrunken. Zu Hause habe er schon mal im Beisein seiner Eltern ein Glas Sekt getrunken.