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30 Jahre Wiedervereinigung?

Landkreis. Eine Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich Ost- und Westdeutsche immer weniger fremd seien und die Wiedervereinigung immer mehr als ein positives Ereignis wahrnehmen. Der ANZEIGER hat bei jungen Menschen aus unserer Region und aus „dem Osten“ nachgefragt.
 
Wie fremd sind sich die Deutschen? Bild: Adobestock

Wie fremd sind sich die Deutschen? Bild: Adobestock

30 Jahre Deutsche Einheit - eine Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich Ost- und Westdeutsche immer weniger fremd seien und die Wiedervereinigung immer mehr als ein positives Ereignis wahrnehmen. Ausschlaggebend sei dafür unter anderem die jüngere Generation. Der ANZEIGER hat bei jungen Menschen aus unserer Region und aus „dem Osten“ nachgefragt.
Was vereinigt wurde, sei laut des Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2020 immer noch nicht gleich: So sei die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland noch immer niedriger als im Westen und damit auch das Lohnniveau der Arbeitnehmeri*nnen, folglich auch die Einnahmen der Kommunen. Manche Regionen im Osten leiden zudem unter einer im Vergleich zum Bundesdurchschnitt relativ hohen Arbeitslosigkeit und auf den Führungsetagen sitzen überproportional „Wessis.“ Lediglich zwei Prozent der Vorstände deutscher Dax-Unternehmen sind mit Ostdeutschen besetzt.Im Kontrast dazu seien die „Leistungs- und Ausstattungsunterschiede […] mittlerweile nahezu in allen Lebens- und Politikbereichen überwunden oder haben sich deutlich verringert.“ Massive Verbesserungen habe es vor allem bei der Infrastruktur, den Wohnverhältnissen, der Gesundheitsversorgung oder der Straßenanbindung gegeben.
 
Ergebnisse der Langzeitstudie
 
Doch wie sieht es abseits dieser Fakten aus? Was hat sich in den Köpfen der Menschen in den vergangenen 30 Jahren verändert? Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung, aus welcher der Spiegel vor Publikation einige Ergebnisse veröffentlichte, und die auf Daten von mehr als 10.000 Befragten zu vier Erhebungszeitpunkten der letzten 30 Jahre basiert, zeigt auf, dass der Anteil der Befragten, die den jeweils anderen Teil Deutschlands als fremd empfindet, von rund 26 Prozent in Ost und West im Jahr 1991 auf rund 16 Prozent 2018 gesunken ist.
Im gleichen Zeitraum stiegt der Anteil derer, die die Wiedervereinigung für den je eigenen Teil Deutschlands als positives Ereignis wahrnehmen: Von 37,9 auf 65 Prozent im Osten, von 33,6 auf 56,6 Prozent im Westen.
 
„Ein normaler Teil Deutschlands“
 
Auch für Marcel (18) aus Hambergen, Francesca (23) aus Gnarrenburg, Lukas (17) aus Bremervörde, Amelie (17) aus Lilienthal sei der Osten und für Annemarie (24) aus Sömmerda und Julian (23) aus Chemnitz sei der Westen nicht fremd, auch wenn er nur selten dort sei. Für Francesca sei „der Osten“ sei ein „ganz normaler Teil Deutschlands“ und Lukas sagt: „Deutschland ist für mich Deutschland, mit allen 16 Bundesländern“. Ebenso für Marcel. Für Amelie sei das System der DDR fremd, nicht aber die neuen Bundesländer.
Bei der Bewertung der Wiedervereinigung als ein positives Ereignis sind sich hingegen nicht alle einig. Während Annemarie trotz gewisser Zweifel und unsere westdeutschen Jugendlichen sie als positives Ereignis betrachten, sei Julian zwar froh, „jederzeit in den Westen fahren zu können“, aber für ihn sei „die Vereinigung zweier Staaten per se kein positives Ereignis. Die „Eigenschaften einer die Europäische Gemeinschaft“ haben für ihn „mehr Gewicht.“ Zudem verbinde er mit der „Wende“ auch Negatives, zum Beispiel, dass seine Eltern danach schnell arbeitslos wurden und seine Mutter seither viele „schlechtbezahlte Jobs“ machen musste.
 
„Wir sind das Volk“
 
Eine große Bedeutung in der DDR-Protestbewegung hatte die Losung „Wir sind das Volk“. Wir wollten wissen, welche Bedeutung sie heute für junge Menschen aus beiden Teilen Deutschlands hat. Marcel sieht darin etwas durchweg Negatives. „Die Parole hat für mich nichts mehr mit dem Kampf gegen ein Regime und für Freiheit zu tun, sondern nur mit rassistischen und faschistischen Forderungen und Taten“, sagt er. Auch Lukas verbindet damit vor allem Rechtsradikale und bekommt dabei Angst vor einer immer rechter werdenden Politik. Francesca meint dagegen, dass sich viele junge Leute die Parole heute unbewusst zu Herzen nehmen, wenn sie zum Beispiel im Rahmen von „Fridays For Future“ auf die Straße gehen und versuchen, etwas zu verändern und Einfluss zu nehmen.
Für Amelie hat die Losung keine direkte Bedeutung, kann ihr aber die Forderung abgewinnen, dass ein Staat „die Interessen des Volkes“ nicht ignorieren darf. Julian findet, dass es „eigentlich eine ganz schreckliche Parole“ sei, aber zu der damaligen Zeit ein „Zeichen für die Politisierung weiter Teile der Bevölkerung“ war. Leider habe sie sich schnell mit „Reise- und Konsumfreiheit“ zufrieden gegeben, „ohne weiter darüber nachzudenken, was das Leben in der BRD eigentlich bedeutet“, so Julian.
 
Der Sieg des Kapitalismus
 
Worin die Studie einen anhaltenden großen Unterschied zwischen Ost und West ausmacht, ist in der Bewertung der Idee des Sozialismus. Im Westen stimmten 2018 47,5 Prozent der Befragten dem Satz zu, dass der Sozialismus „im Grunde eine gute Idee“ sei, „die nur schlecht ausgeführt wurde“, während dem Satz im Osten 74 Prozent zustimmten. Im Vergleich zum Jahr 1991 blieb die Prozentzahl im Osten gleich, im Westen hingegen sei sie um 8 Prozentpunkte gestiegen. Mit der jungen Generation, so ließe sich schlussfolgern, gewinnt im Westen der Sozialismus als Idee folglich wieder mehr Sympathie. Vielleicht deshalb, weil der Sieg des Kapitalismus, den er 1990 weltweit davontrug, jüngeren Menschen heute zunehmend seine negativen Aspekte offenbart; weil er seine Versprechen allgemeinen Wohlstands nicht halten kann. Das betonen zumindest Marcel, Francesca, Annemarie und Julian. Zum Kapitalismus brauche es dringend Alternativen, so Marcel. In Anbetracht seiner Reichtumsverteilung könne „nicht davon gesprochen werden, das er Gleichberechtigung bringt und auf den Wohlstand der Gesellschaft ausgerichtet ist.“ Auch Francesca ist diesbezüglich eindeutig: „Der Kapitalismus könnte fatal für die ganze Welt sein.“ Zudem gebe er einem als Einzelperson das Gefühl „hilflos und machtlos“ zu sein. Auch Julian betracht den Siegeszug des Kapitalismus seit 1990 und seine real erscheinende Alternativlosigkeit „natürlich als negativ“ und errinnert daran, dass es bis zu den Volkskammerwahlen 1990 in der DDR „viele vernünftige Stimmen gab, die den Sozialismus refomieren wollten.“ Heute sei es dagegen schwierig überhaupt „Verteilungsfragen zu stellen“ oder „demokratischere Strukturen neu auszuprobieren.“ - „Also ja“, so Francesca abschließend: „Der Sieg des Kapitalismus ist etwas Negatives.“


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