Der Ton macht die Musik
Heute setze ich mal meine Brille als Medienschaffende ab und schreibe diese Zeilen ausdrücklich als Leserin. So sehr ich inhaltlich die metapolitische Analyse des Autors nachvollziehen und im großen Ganzen sogar teile, umso mehr befremdet mich der Ton.
Der Autor sieht also in dem „kompensatorischen Kult um Einheit“, den die aktuelle „Nie wieder ist jetzt“- Bewegung eint, faschistisches Potenzial. Mit zahlreichen Beispielen untermauert, entfaltet der Autor eine durchaus schlüssige Argumentation, warum es immer problematisch ist, die Welt und sein Gegenüber in Freund und Feind, oder milder in Gegner einzuteilen. In der aktuellen Bewegung der Demokratie-Beschützer, so scheint es, verstünden sich gerade unterschiedlichste Gruppen nur scheinbar blendend, die sonst wenig gemeinsam hätten. Als spielten die Unterschiede keinerlei Rolle mehr. Natürlich schafft eine Besinnung auf eine vielleicht noch so kleine Schnittmenge an Gemeinsamkeiten keine Meinungsverschiedenheiten oder unterschiedliche Weltanschauungen aus dem Weg. Ich habe nicht erlebt, dass dies ernsthaft jemand behauptet, der oder die von den Rednerpulten der großen Demonstrationen für Demokratie und Freiheit zu den Menschen spricht.
Der Autor jedoch – vielleicht war er nie selbst auf einer dieser Kundgebungen – sieht in einer groß lancierten und in der Tat unglücklich benannten Kampagne das „Zusammenland“ als „gruseliges Hirngespinst“. Leider bleibt er seiner Leserschaft die persönliche Begründung dafür schuldig. Er könnte dieses „Zusammenland“ nun einfach als Utopie bezeichnen, oder als Sozialromantik. Das jedoch wäre ein Minenfeld, weil Neu-Rechts-Sprech. Stattdessen reagiert er mit deutscher Selbstgerechtigkeit auf die von ihm konstatierte „deutsche Dreistigkeit“, indem er Redner:innen auf den Kundgebungen – darunter hochrangige Politiker:innen und Kolleg:innen renommierter Medien – als „Halbbildungsbürgertum“ diffamiert. Wie schade! Die Meta-Analyse von ihm ist sorgfältig und klug. Treffend entlarvt er die Betitelung des „Geheimtreffens“ als „Wannseekonferenz 2.0“ als NS-Relativierung und sieht ebenso zutreffend in den „bestialisch Juden tötenden (…) Antisemiten in Gaza, Iran und Libanon“ die wahren Erben der NS-Herrschaft.
Als Ausweg skizziert der Autor unter Berufung auf große Theoretiker wie Theodor W. Adorno die Notwendigkeit einer grundlegenden Herrschaftskritik. Er beobachte eine große Unsicherheit und Ohnmacht bei vielen Menschen und vermisse „Verhältnisse (…), die weder ohnmächtig machen, noch die Menschheit in Herrscher und Beherrschte spalten“.
Die Antwort auf die Frage, wer für die Herstellung dieser Verhältnisse verantwortlich sei soll (Spoiler: Bestenfalls die demokratisch gewählten und gesinnten Volksvertreter, sowie am Gemeinwohl orientierte Gruppen) lässt der Autor leider unbeantwortet. Ebenso wäre auch eine (selbst)reflektierte Sicht auf die Rolle der Medien beim Thema Herrschaftskritik notwendig, und das Anstoßen einer Debatte über die Bedeutung heutiger, unterschiedlicher Medienformate am Prozess der Entstehung von Weltanschauungen und politischen Ansichten.
Wir alle, und da schließe ich mich selbst mit ein, sind niemals frei von Klischees. Die echte Auseinandersetzung mit Vertreter:innen anderer Gruppen hebt Unterschiede nicht auf, sondern birgt das Potenzial, die Unterschiede auch als Stärke sehen zu können. Vielleicht wird man nie befreundet sein, aber man kann professionell zusammenarbeiten. Dazu muss man aber an echtem Dialog interessiert sein.
Neben dem sehr überheblichen Ton, mit dem der Autor aus seinem Schreibzimmer auf die Demonstrierenden herabzublicken scheint und den ich hier bemängele fehlt mir ein Fazit, das die Ergebnisse herunterbricht, auf die Ebene der Straße – und um die geht es hier. Immerhin sind die auf die Straße gehenden Menschen aktiv, anstatt sich passiv ihrem Ohnmachtsgefühl hinzugeben und hoffentlich sind sie auch im Dialog miteinander anstatt nur übereinander.
Von Monica Wehner, freie Mitarbeiterin beim ANZEIGER
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