Die Illusion eines starken Streikrechts
Derzeit verurteilen Politiker aller Couleur die vermeintliche Unverhältnismäßigkeit der Streiks der GDL. Warum aber nie die Unverhältnismäßigkeit der anderen Tarifpartei? Für eine streikarme sozialpartnerschaftliche Beziehung braucht es schließlich immer die Verständigung zweier Parteien. Andernfalls bleibt alles beim Alten oder es wird eben gestreikt. Und da die Machtverteilung in Arbeitskonflikten immer asymmetrisch ist, profitieren vom Nicht-Streiken nur die Arbeitgeber.
Politiker gegen das Gesetz
Bei Diskussionen über das Streikrecht in Deutschland könnte man meinen, jeder dürfte zu jeder Zeit streiken, es gebe eine vereinigte Arbeiterschaft, die kurz vor der Revolution steht, und es gebe regelmäßig politische Streiks wie in Frankreich. Doch das Gegenteil ist der Fall: Politische Streiks sind nach dem Großteil der Rechtsauffassungen untersagt und im Allgemeinen darf nur gestreikt werden, wenn eine Gewerkschaft dazu aufgerufen hat. Ein individuelles Streikrecht gibt es in Deutschland nicht. Nicht zuletzt sind die Gewerkschaften aus Selbsterhaltungsdrang auch am Erhalt der Unternehmen interessiert - und nicht an deren Abschaffung.
Deshalb kann man sich nur wundern, dass auch dann noch ein großer Aufruhr entsteht, wenn die Forderungen der GDL bereits von zwei Gerichten als tarifvertraglich regelbare Ziele bestimmt wurden. Es ist zwar alles rechtens, doch für die meisten wirkt es ungerecht.
Dass es Jens Spahn dabei nicht um die wütenden Menschen geht, die am Bahnhof stehen und mit rotem Kopf die Anzeige lesen, dass wieder ein Zug ausfällt, spricht er selbst deutlich genug aus: Der „Streik-Irrsinn“, der „unser Land lahmlegt“ soll beendet werden, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht unter „Standort-Gefahr“ (Bildzeitung, 12. März) gerät. Ähnlich sieht das Bundeswirtschaftsminister Habeck. Für weniger Arbeit zu streiken, könnte sich Deutschland gerade nicht leisten. Auch Aussagen wie „Die GDL riskiert das Streikrecht - und könnte allen Angestellten schaden“ (Stern, 12. März) zeichnen ein verzerrtes Bild von den ungleichmäßigen Machtverhältnissen der beiden Konfliktparteien. Die meisten Angestellten in Deutschland können das Streikrecht gar nicht wahrnehmen, weil bspw. schon seit Jahren die Zahl der Betriebe mit Betriebsräten und Tarifbindungen rückläufig ist. Wie schwer es ist, basale Arbeitnehmerrechte wie das Streikrecht wahrzunehmen, wird immer wieder in Konflikten der sogenannten Plattformökonomie deutlich.
Stimmen, die den Streikenden beistehen, sind rar gesät. Wenige kritisieren wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, der vor Jahren selbst einen Tarifstreit zwischen Bahn und Gewerkschaft schlichtete, die Haltung der Bahn. Ramelow erkenne eine „Zerstörungsabsicht“ bei den Bahn-Managern.
Streiken ja, aber bitte ohne Auswirkungen
Dass Streiks überhaupt den Unternehmensablauf und das alltägliche Leben einschränken, ist nicht notwendig gegeben. Schon seit einem Jahrzehnt streiken die Beschäftigten bei Amazon ganz gezielt an sogenannten Prime Days für die Anerkennung des Flächentarifvertrags: Ohne größere Störungen im Betriebsablauf und ohne großen Erfolg. Auch die monatelangen Streiks im Einzel- und Großhandel brachten, wenn überhaupt, nur kurzzeitige Geschäftsschließungen oder kurzfristige Güterknappheit in den Geschäften. Dass sich Streiks auf den Alltag in Deutschland auswirken, ist selten, da neben großen Flächentarifauseinandersetzungen die Streiks bei kleinen Betrieben stattfinden (sogenannter Häuserkämpfe) und oftmals davon nicht einmal berichtet wird. Streiks bei der Bahn wirken aufgrund der Einwirkung auf die öffentliche Infrastruktur anders, bilden aber nicht die Regel ab.
Ignorierte Gründe
Vergessen werden in den hitzigen Debatten über das Streikrecht die eigentlichen Gründe für die Auseinandersetzungen. Diese reichen im Unternehmen von der Privatisierung und Umstrukturierung, die mit massivem Stellenabbau und Tarifsenkungen einherging, bis zu dem scheinbar ganz natürlichen Verhältnis von Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Vergessen werden auch die Erfolge der Gewerkschaften, die aus langen und kämpferischen Auseinandersetzungen folgten. Dazu zählt u. a. die Einführung des Achtstundentages. Nicht zu vergessen ist, dass „[n]ur dadurch, dass Gewerkschaften immer wieder die Grenzen des Streikrechts austesten und dabei auch juristische Auseinandersetzungen nicht scheuten, veränderte sich die Rechtssprechung - nicht immer, aber doch immer wieder auch zu ihren Gunsten“, wie der Sozialwissenschaftler Heiner Dribbusch in seinem Buch „Streik“ darlegt. Wer für die Abschaffung des Streikrechts plädiert, scheut sich nicht vor dem Abbau von erkämpften Arbeitnehmerrechten.