Die Unbeständigkeit der Wahl
Am Dienstag wird in den USA erneut gewählt. Die Wahl rückt die älteste Demokratie der Welt stärker als sonst in das Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. Die Berichterstattung - sowie die mit den Wahlen einhergehende Obsession für Umfragen, von denen man sich erhofft, Wahlforscher mögen sie in Glaskugeln verwandeln - ist insbesondere seit der ersten Kandidatur Donald Trumps in höchster Aufregung. Das Interesse speist sich mitunter daraus, dass weniger gefestigte Stimmen ausschlaggebend für den Ausgang der Wahl sein könnten. Der Philosoph Thomas Hobbes nannte dieses Phänomen die „Unbeständigkeit der Zahl“. Was nichts anderes heißt, als dass schon die Abwesenheit Weniger, aus welchen Gründen auch immer, Beschlüsse umwerfen kann. Im Fall der kommenden US-Wahl bedeutet dies ganz konkret: Es hängt von wenigen Stimmen aus den sogenannten Swing States ab, ob die USA in den nächsten vier Jahren zum ersten Mal von einer Frau regiert werden oder ob der Rechtspopulist Trump erneut Präsident wird.
Die Themen der Wahl
Doch welche Themen könnten vor dem Hintergrund dieser Unbeständigkeit den Wahlkampf entscheiden? Harris selbst wird nicht müde zu betonen, sie kandidiere, weil sie die geeignetste Person für das Amt sei, und nicht wegen ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts. Allerdings scheint mit Blick auf die Berichterstattung für manche letzteres ein Grund zu sein, nicht für Harris zu stimmen. Sowohl weiße, christliche Mittelstandsfrauen als auch schwarze Männer scheinen eine Frau im Amt nicht immer für geeignet zu halten. Während konservative Frauen eher in ihrer Wahlentscheidung für die Republikaner gefestigt sind, könnten die Stimmen der schwarzen, männlichen Bevölkerung für Harris wahlentscheidend sein. Da die amerikanischen Männer allerdings generell in ihrer Wahlentscheidung gefestigter scheinen und ihre Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl geringer war, umgarnte der Wahlkampf zuletzt tatsächlich in hohem Maße Frauen. Während in einer von der New York Times und dem Siena College durchgeführten Umfrage von August Männer aus den Swing States als wichtigstes Thema die Wirtschaft angaben, waren bei den Frauen die Wirtschaft und Abtreibungen gleich auf. Bei den unter 45-jährigen Frauen führte dieses Thema gar das Ranking an. Es ist also nicht verwunderlich, dass Melania Trump sich gegen ein Abtreibungsverbot äußerte und auch Donald Trump selbst inzwischen eine weniger radikale Linie fährt, nachdem der Supreme Court mithilfe der von ihm nominierten konservativen Richter für die Abschaffung des bundesweiten Rechts auf Abtreibung stimmte. Auch der Krieg in Nahost, den Israel als Reaktion auf das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 gegen die radikalislamische Hamas im Gazastreifen und inzwischen auch gegen die Hisbollah im Libanon führt, könnte das Wahlergebnis maßgeblich beeinflussen. Denn im Swing State Michigan lebt eine zahlenmäßig relevante amerikanisch-arabische Minderheit, die sich größtenteils vehement gegen die Unterstützung Israels ausspricht. Es wird befürchtet, dass diese ihre Stimme der pro-palästinensisch eingestellten Grünen-Kandidatin Jill Stein geben könnten. Auch wenn erwartet wird, dass Stein auf nicht mehr als ein Prozent der Stimmen kommen wird, droht der Verlust jener Stimmen auf Seiten der Demokraten, das Ergebnis im Sinne Trumps zu kippen; waren sie es schließlich, die Biden bei der letzten Wahl in Michigan zu einem Sieg verhalfen.
Bestimmender Irrationalismus
An dieser Stelle offenbart sich in aller Deutlichkeit ein Konflikt im demokratischen Lager. In demokratischen Medien wird nicht zu Unrecht die Irrationalität und vermeintliche Halbbildung des harten Kerns der Anhängerschaft Trumps betont. Dabei wird auch auf den Wahn verwiesen, der sich in rechten Verschwörungstheorien Bahn bricht und nicht zuletzt im Sturm aufs Kapitol kulminierte, der zu Recht als demokratiegefährdend gewertet wird. Vergleichsweise still wurde es allerdings, als unter jungen demokratischen User:innen der Onlineplattform TikTok der Brief „Letter to America“ des ehemaligen Al-Qaida-Anführers Osama bin Laden trendete und überwiegend positiv rezipiert wurde. Auch dem Antisemitismus, der sich bei den teilweise gewalttätigen Campus-Protesten ausagierte, kam dieses Maß an Aufmerksamkeit nicht zu. Es scheint, als ob ein Unterschied zwischen „richtigem“, oder zumindest vernachlässigbarem Irrationalismus und der „schlechten“ Faktenblindheit des republikanischen Lagers gemacht wird.
Vor dem Hintergrund weit verbreiteter rechter Verschwörungstheorien und einem nicht insignifikanten Ausmaß linker Terrorverherrlichung scheint Irrationalität den Wahlkampf zu bestimmen. Aber dies ist nicht Ausdruck einer dem Wahnsinn verfallenen Mehrheitsgesellschaft, sondern das unglückliche Resultat eines Wahlverfahrens, welches den Stimmen einer kleinen Minderheit in gewissen Bezirken wahlentscheidendes Gewicht verleiht: Und es muss gehofft werden, dass sich diese nicht überproportional zum Rest der Bevölkerung radikalisiert hat.