Gastkommentar: Grenzenloser Antisemitismus
Antisemitismus kennt keine Grenzen. Und das in einem doppelten Sinn: Judenhass drängt vom Gedanken zur Tat. Am Ende steht immer der Mord, ja der Massenmord. Wir konnten am 7. Oktober live beobachten, wohin der Antisemitismus drängt, wenn man ihn lässt. Zugleich versuchen Antisemiten aller Länder, einander zu mobilisieren. Die Hamas hat nach ihrem brutalen Überfall auf Israel mit mehr als 1.400 Ermordeten und weiterhin über 240 Entführten zu einem Tag des Hasses aufgerufen. Weltweit, so die mörderische Hoffnung, sollten Menschen am Freitag, den 13. Oktober, Juden und ihre Einrichtungen attackieren.
Die Hamas hat schon jetzt eine globale Welle des Antisemitismus entfesselt. In Ägypten erschoss ein Polizist wenige Tage nach dem 7. Oktober israelische Touristen. In Beijing wurde ein israelischer Diplomat niedergestochen, in Lyon eine französische Jüdin. In Los Angeles wurde ein 65-Jähriger erschlagen, weil er eine Israelfahne bei sich trug. Und in Berlin wurde vor wenigen Tagen ein Israeli mit einem Messer bedroht.
Die Liste der antisemitischen Vorfälle der letzten Wochen ist zu lang für diesen Text: “Free Palestine”-Schmierereien an Erinnerungsorten, abgerissene Israelfahnen, ein “Kill Juden” Graffiti an der Berliner “East Side Gallery”, Häuser, die mit Davidsternen markiert wurden, bedrohte Juden, Molotow-Cocktails auf eine Synagoge. Das erinnert an düstere Zeiten. Die Bedrohungslage ist hoch.
Für Jüdinnen und Juden ist der 7. Oktober eine Zäsur. Die genozidale Gewalt und die tausenden Raketen seitdem, gepaart mit den schrecklichen Reaktionen im Internet und auf den Straßen dieser Welt lassen bei vielen das Gefühl zurück, allein zu sein, wenn es drauf ankommt. Denn auf den Social Media Kanälen dominierten schnell Terrorverherrlichung und Verschwörungserzählungen. Empathie? Fehlanzeigen.
Einschlägige BDS-affine Gruppen und Personen (BDS = Boycott, Divestment and Sanctions, gegen Israel gerichtet) verherrlichten bereits am 7. Oktober die genozidale Gewalt als Befreiungsschlag, andere leugnen schlicht, dass sie stattgefunden hat. Rechtsextreme Accounts raunten, der 7. Oktober sei ein Inside Job gewesen. Oder nutzen die Situation für ihren Rassismus aus und schwelgen in Abschiebefantasien. Seitdem gab es in Deutschland hunderte Demonstrationen und Kundgebungen, in denen der Hass auf den jüdischen Staat sowie Jüdinnen und Juden in der Diaspora sich Bahn brach. Der Gipfel der Empathielosigkeit: Plakate der Entführten werden abgerissen. Zur Empathielosigkeit tragen auch die Verständnisvollen bei, die beide Seiten im Blick zu haben meinen und von einer Spirale der Eskalation faseln. Sie verurteilen zwar das Morden der Hamas, so sagen sie, nur danach setzen sie zu einem “Aber” an. Was auf dieses “Aber” folgt, entwertet meist die vorherige Verurteilung. Dagegen gilt: Jüdisches Leben und Israel haben ohne Wenn und Aber Solidarität verdient. Gerade in diesen Zeiten, gerade angesichts dessen, was am 7. Oktober geschah.
Sicher, es gibt auch positive Gegenbeispiele. Es gab bundesweit Kundgebungen in Solidarität mit dem jüdischen Staat, am von der Hamas ausgerufenen Tag des Hasses haben sich Hunderte schützend vor die Synagoge am Berliner Fraenkelufer gestellt und es gibt einige Stellungnahmen und offene Briefe, die klare Worte finden und sich solidarisch mit Jüdinnen und Juden zeigen. Es sind dennoch viel zu wenige. Es bleibt aber nichts, als sich an diesen Akten der Solidarität zu orientieren. Die Empathielosigkeit beschämt - wenn sie auch kaum überraschen kann. Der israelbezogene Antisemitismus ist nicht neu, Israelhass ist seit einer Weile en vogue in linken Kreisen. Für Rechtsextreme und Islamisten gehört er zur DNA. Im Internet haben weiter Antisemitismus und Relativierung die Überhand.
Jüdinnen und Juden dürfen sich nirgendwo alleingelassen fühlen, vor allem nicht in Deutschland, dem Land der Shoah. Alle, vor allem aber wir als nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft, sind gefordert, Antisemitismus endlich in die Grenzen zu weisen.
Nikolas Lelle arbeitet seit 2020 bei der Amadeu Antonio Stiftung. Von ihm erschienen ist das Buch „Arbeit, Dienst und Führung -Der Nationalsozialismus und sein Erbe“ im Verbrecher Verlag.