„Häusliche Gewalt ist Alltag“
Niedersachsen. „Häusliche Gewalt ist Alltag in Deutschland“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der Vorstellung des neuen Lagebilds Häusliche Gewalt. Gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, präsentierte Faeser kürzlich in Berlin aktuelle Zahlen aus der Kriminalstatistik: Demnach stieg die Zahl der Opfer Häuslicher Gewalt im Vergleich zum Jahr 2021 um 8,5 Prozent. Im letzten Jahr waren somit 240.547 Menschen von Gewalt im engsten Umfeld betroffen - mehrheitlich Frauen, die insgesamt über 70 Prozent der Betroffenen ausmachen, im Bereich Partnerschaftsgewalt sogar 80 Prozent. Unter den Tatverdächtigen waren rund 78 Prozent Männer und 22 Prozent Frauen. Häufig handelt es sich bei den mutmaßlichen Täterinnen um Ex-Partner:innen. Im Bereich Partnerschaftsgewalt trifft dies auf etwa 40 Prozent der Fälle zu. Die Hälfte der Opfer lebte mit der tatverdächtigen Person zusammen.
In diesem Jahr erfasst das Lagebild erstmals auch auch Gewalt im familiären Umfeld, etwa gegen Kinder oder pflegebedürftige Angehörige. Bisher bezog sich die Statistik ausschließlich auf Partnerschaftsgewalt, die mit 65,6 Prozent immer noch die Mehrheit der registrierten Fälle ausmacht - und mit 9,1 Prozent mehr Opfern auch einen höheren Anstieg verzeichnet, als die Gesamtzahl der Fälle.
Hilfetelefon wird häufiger genutzt
Die Zahlen steigen nicht erst seit der Corona-Pandemie. Seit 2015 veröffentlicht das Bundeskriminalamt Statistiken zu Häuslicher Gewalt, in diesem Zeitraum ist die Zahl der registrierten Opfer insgesamt um 13 Prozent gestiegen. BKA-Chef Holger Münch führt das auch auf eine gestiegene Sensibilität in der Bevölkerung zurück - nicht zuletzt durch Bewegungen wie „#MeToo“ oder die Info-Kampagnen für Hilfsangebote zu Beginn der Pandemie. Das bundesweit kostenlose Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, das unter der Nummer 116 016 zu erreichen ist, berichtet für 2022 einen leichten Rückgang der Beratungen um 2,5 Prozent. Dennoch liegt das Beratungsaufkommen immer noch um 18 Prozent höher als 2019 vor der Corona-Pandemie.
Dunkelfeld-Studie startet
Nach wie vor wenden sich jedoch viele Betroffene nicht an die Polizei. Das Bundeskriminalamt schätzt, das zwei Drittel der Fälle nicht angezeigt werden. Um mehr über das Dunkelfeld zu erfahren, starten das Innen- und Familienministerium gemeinsam mit dem BKA jetzt eine groß angelegte Studie zu Partnerschaftsgewalt mit dem Titel „Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“. Über einen Zeitraum von 12 Monaten sollen dabei 22.000 zufällig ausgewählte Personen befragt werden - auch zu ihren Erfahrungen mit Justiz, Polizei, Medizin und Hilfestellen. Mit ersten Ergebnissen wird 2025 gerechnet.
Fallzahlen in der Region
Die Fallzahlen im Landkreis Osterholz folgen auf den ersten Blick dem bundesweiten Trend. Gab es 2021 insgesamt 182 bekannte Fälle Häuslicher Gewalt, stieg diese Zahl im letzten Jahr auf 192. Im Jahr 2020 lag die Zahl der Fälle mit 205 allerdings noch höher. Die Polizeiinspektion Verden/Osterholz, die auch für den Nachbarlandkreis zuständig ist, verzeichnet im Jahr 2022 insgesamt 628 Delikte, die „mehrheitlich zum Nachteil von Frauen verübt wurden“, wie Pressesprecherin Sarah Schlierkamp mitteilt.
Die Polizei in Rotenburg hingegen berichtet von einem Rückgang der Fälle um 12,4 Prozent. Laut Pressesprecher Heiner van der Werp gab es 2021 insgesamt 322 Fälle, im letzten Jahr waren es 282. Auffallend hoch ist hier die Zahl männlicher Opfer (102), die entgegen dem bundesweiten Durschnitt rund ein Drittel beträgt.
„Es geht uns alle an“
„Häusliche Gewalt ist eines der Themen, welches uns als Gleichstellungsbeauftragte immer begleitet“, sagt Andrea Vogelsang, Gleichstellungsbeauftragte der Gemeinde Ritterhude. Den Anstieg der Zahlen sieht sie nicht nur in einem gesteigerten Bewusstsein in der Bevölkerung begründet, sondern auch in finanziellen Nöten in vielen Haushalten. „Das ist ein großer Risikofaktor“, erklärt sie.
Die Informationskampagnen hätten sicherlicherlich dabei geholfen, mehr Fälle aufzudecken. Dieser Effekt lasse aber im Laufe der Zeit auch wieder nach, wenn das Thema nur vorübergehend aufgegriffen werde. „Wir müssen erreichen, dass das Thema präsent ist und auch als wichtiger Bestandteil unseres Miteinanders wahrgenommen wird. Es geht uns alle an“, sagt die Gleichstellungsbeauftragte.
Vogelsang wünscht sich in jeder Gemeinde einen Präventionsrat, der sich mit Häuslicher Gewalt beschäftigt. „Dazu gehören auch Ärzt:innen, Schulen, Vereine und eine starke Nachbarschaft, die aufeinander achtet. Alle müssen jederzeit auch schnell an Informationen kommen und die wichtigsten Anlaufstellen kennen. Ob betroffen oder nicht.“
Vogelsang weist außerdem auf die Arbeit mit Täter:innen hin, die selten beachtet werden. „Ein akutes Problem ist, dass die sogenannten „Selbstmelder“ - Täter:innen, die raus aus der Spirale oder nicht reingeraten wollen - nicht wissen, wohin sie sich wenden können. Dieser Aspekt wird selten beachtet und daher sind solche Anlaufstellen sehr rar. Daran muss dringend gearbeitet werden.“ Im Landkreis Osterholz gab es im letzten Jahr 96 Selbstmelder:innen, über fast die Hälfte der bekannten Fälle wurden die Behörden also von den Täterinnen selbst informiert.