Kommentar: Frankreichs Napoleon der IV.?
Frankreich hat gewählt. Europa atmet auf. Schon nach der Wahl 2017 sind die beiden traditionellen Volksparteien von der politischen Bühne verschwunden. Und so hieß es auch fünf Jahre später bei der Stichwahl: Le Pen oder Macron. Rassismus oder freie Wirtschaft. Nationalismus oder EU. Globalisierungsverlierer:innen gegen liberale Eliten. Zumindest wenn man den Kommentatorinnen der deutschen Presselandschaft folgt. Doch was ist dran an dieser Einschätzung?
Über die Einstellungen und Ziele von Le Pen gibt es keine Zweifel. Ihr Konzept eines „Europas der Nationen“ strebt nach bilateralen Bündnissen mit Rassisten und Antisemiten wie Victor Orbán. Selbst vor einer Kooperation mit Putins Russland schreckt Le Pen nicht zurück. Innenpolitisch propagiert sie die „priorité nationale“: Menschen ohne französischen Pass sollen auf dem Arbeitsmarkt und bei Sozialleistungen massiv benachteiligt werden.
So ist es trotz gemäßigterer Töne im diesjährigen Wahlkampf immer noch erschreckend, dass 42% der Wähler:innen ihre Stimme einer Rechtsextremistin geben und sollte nicht - wie in deutschen Feuilletons weit verbreitet - durch die ökonomische Lage der unteren Klassen gerechtfertigt werden. Das ist schlechtester Soziologismus.
Die neoliberale Agenda des Wahlsiegers Macron ist ebenfalls eindeutig. Macron ist und bleibt ein Präsident der Reichen und ein Feind der Lohnabhängigen. Es greift aber zu kurz, die wirtschafts- und globalisierungsfreundliche Politik des Präsidenten mit politischer Liberalität gleichzusetzen.
Denn Macron hat maßgeblich zur Entdemokratisierung Frankreichs beigetragen, indem er das ohnehin schwache französische Parlament weiter entmachtet hat. Die hoch umstrittenen Reformen der Arbeitslosenversicherung und des Rentensystems hat er ohne Einbeziehung der Legislative per exekutivem Dekret durchgesetzt. Diese Technik kennt man bereits von Donald Trump.
Der ins Autoritäre tendierende Führungsstil Macrons wird durch die Verfassung der fünften Republik, die den Präsidenten mit einer autoritären Machtfülle ausstattet, begünstigt. Ein Schlüsselelement ist hierbei das Mehrheitswahlrecht, das daher zu Recht zur Disposition steht.
Kapitalismus und bürgerliche Demokratie sind zwar grundsätzlich kompatibel. Die politisch liberale Form der kapitalistischen Produktionsweise ist aber keineswegs garantiert. Sie hängt von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Die europäische Geschichte und die chinesische Gegenwart zeigen, dass Kapitalismus auch in autoritären Gesellschaften als ein erfolgreiches Modell zur Aneignung fremder Arbeitskraft funktionieren kann. Diese autoritäre Tendenz ist auch Macrons Regierungstechnik inhärent. Die Gelbwestenbewegung, die zuletzt auch die Anhebung der Löhne und Renten forderte, ließ er kompromisslos niederknüppeln.
Die Wahl der Französinnen war also tatsächlich eine zwischen Pest und Cholera. Aber nicht zwischen autoritärem Nationalismus und liberalem Kapitalismus. Sondern zwischen autoritärem Nationalismus und autoritärem Neoliberalismus. Entsprechend sollte die Wahl Europa nicht nur durchatmen, sondern wahren Freundinnen der Demokratie auch den Atem stocken lassen. Denn Macrons Politik richtet sich nicht nur gegen die Armen. Sie verkleinert auch systematisch die Einflussmöglichkeiten demokratischen Handelns - Eine Tendenz, der nicht zuletzt vor dem Hintergrund des weltweiten Erstarkens des Autoritarismus unbedingt Einhalt geboten werden muss.