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Kunstfrühling in Worpswede: Spurenlesen in Stoff und Seelen

Drei Künstlerinnen, drei Positionen, drei Ausstellungen – der Worpsweder Kunstfrühling bringt Zeit, Stoff und Erinnerung in Bewegung.

Worpswede. Mit dem Frühlingsbeginn am 23. März startet im Künstlerdorf Worpswede der ‚Kunstfrühling‘. Barkenhoff, Kunsthalle und Große Kunstschau präsentieren gemeinsam die Arbeiten dreier Ausnahmekünstlerinnen, deren Werke die kreative Vielfalt und den Wandel der Kunst vor Ort verkörpern. Auf ganz unterschiedliche Weise nähern sich die drei Sonderausstellungen dem Schaffensprozess und zeigen spannende Kontraste zeitgenössischer Arbeiten.

Fäden und Fragen: Ursula Jaeger im Barkenhoff

Im Barkenhoff widmet man sich Ursula Jaeger und einer beinahe vergessenen Kunstform. Als eine von fünf Künstler:innen in Norddeutschland hat sie sich der Bildweberei verschrieben, die einst als kostbares Gewerbe galt. Mit ihren imposanten Bildgeweben schafft Jaeger autonome Räume. Indem sie dem textilen Material gestaltete Papiere oder Furnier hinzufügt, sucht die Weberin stets nach neuen Gestaltungsansätzen und befragt das Verhältnis zwischen Kunst und Handwerk. „Mir reichen keine Bilder, die man einfach übers Sofa hängt – meine Werke sollen etwas vermitteln“, so die Künstlerin. Ein Fokus liegt deshalb auf der Balance zwischen Inhalt und Ästhetik des Bildgewebes. Ihre Kunst empfindet sie als ‚Malen mit Fäden‘, ohne Malerei zu imitieren.

Bei genauer Betrachtung finden sich – neben Spuren alter Kulturen und Symbolen der Natur – wiederkehrende Elemente in ihren Arbeiten, die sich mit der diametralen Beziehung zwischen Leben und Tod auseinandersetzen. Andere Wandbehänge thematisieren biblische oder politische Geschichten und blicken kritisch auf die Kluft zwischen entschleunigter Vergangenheit und schnelllebiger Gegenwart. „Anfangs arbeite ich oft mit Collagen und trete dann in einen künstlerischen Probierprozess, in dem ich liebend gerne mit Farben, Formen und Motiven experimentiere“, erklärt Jaeger. „Leitern, die wir alle tagtäglich weiter hinaufsteigen, verkörpern für mich das Leben“, ergänzt sie. Eines ihrer jüngsten Werke zeige, dass sie – trotz einiger Stürze – bald die Spitze der eigenen Leiter erreicht habe, erzählt die 90-Jährige.

Fund und Fügung: Hanna Ahrens in der Kunsthalle

In der Worpsweder Kunsthalle begab man sich auf eine jahrzehntelange Spurensuche durch das Leben der Künstlerin Hanna Ahrens. Inspiriert von einem zufälligen Flohmarktfund des Kunstliebhabers Frank Fenken im Oktober, stürzte sich Cornelia Hagenah – Künstlerische Leitung der Kunsthalle – ins hausinterne Archiv und machte so ein Stillleben der zwischenzeitlich vergessenen Malerin ausfindig. „Vor knapp zwei Jahren kam Frank mit der Zeichenmappe von Hanna Ahrens zu uns, begab sich danach noch weiter auf eine intensive Recherche und kontaktierte hinterbliebene Familienmitglieder“, berichtet Hagenah. Bis zuletzt habe Michael Ahrens, der selbst im vergangenen Jahr verstarb, den Wunsch geäußert, dass man der Kunst seiner Mutter noch einmal einen Platz in Worpswede schenkt, erinnert sich Fenken.

Prozessakten und ein von Michael Ahrens verfasster Lebenslauf eröffneten Fenken und Hagenah Einblicke in ein turbulentes, tragisches Künstlerleben, das 1926 in Bremen begann. In den ‚Rolling 20s‘ zog es Ahrens nach Berlin, Paris und München, wo sie studierte und erste Aktbilder und Modezeichnungen mit Kohle schuf. 1931 ging es von der trubeligen Großstadt ins idyllische Worpswede, wo die Künstlerin neue dörfliche Motive für sich entdeckte. „Stillleben und die Darstellung von arbeitenden Frauen ziehen sich dennoch durch das gesamte Oeuvre von Ahrens“, betont Hagenah. Nur wenige Jahre später kam es jedoch zu zwei folgenschweren Erlebnissen, die von da an Hannas Leben bestimmten. Nachdem sie 1937 wegen Alkoholmissbrauch entmündigt wurde, erblickte 1943 das erste Kind der unverheirateten Malerin das Licht der Welt – sein Vater: ein Kriegsgefangener.

Vor der Inhaftierung bewahrte Hanna damals ihr Künstlerfreund Bernhard Huys, der die Vaterschaft übernahm. Welche Rolle die Kunst danach in Ahrens’ Leben spielte, lässt sich nur noch schwer aus den Plastiken, Briefen und Bildern der Künstlerin nachvollziehen. Bis zu ihrem Tod 1985 brachen die Beziehungen ins Künstlerdorf zunehmend ab, erklärt Fenken. „Viele Werke der Malerin wurden im Laufe der Jahre eingetauscht oder verkauft, da die Familie längst die Hoffnung aufgegeben hatte, dass Hanna jemals wieder in Worpswede stattfinden würde“, so der Kunstliebhaber. Umso berührter sei man, dass ‚Wiederentdeckt: Hanna Ahrens‘ nun doch nochmal an die Künstlerin erinnert.

Horizonte und Hindernisse: Margaret Kelley in der Großen Kunstschau

Abgerundet wird das Worpsweder Programm durch die farbenfrohen Goblins der Künstlerin Margaret Kelley – metergroße Leinwände, die faszinierende Geschichten erzählen und bis zum 9. Juni in der Großen Kunstschau zu sehen sind. Kelley lebt und arbeitet seit über 30 Jahren in Worpswede und beeindruckt vor allem durch ihre großflächigen Werke, die sich teilweise über 100 Meter erstrecken. Bemalte Segel- und Armeetücher, mit denen sie konventionelle Formate durchbricht, gelten längst als ihr Markenzeichen. Alle präsentierten Goblins entstammen dem Zyklus ‚A Leap of Faith‘, der vom düsteren Licht, der flachen Landschaft und dem sichtbaren Horizont der Worpsweder Umgebung inspiriert ist.

„Mit den zehn Zyklen, die mich knapp 15 Jahre begleitet haben, begann ich damals in Worpswede“, erzählt sich Künstlerin Kelley, die 1991 von Los Angeles in das beschauliche Künstlerdorf zog. Auf ihren imposanten Leinwänden zeigt sie gedankliche, teils unüberwindbare Sprünge und befragt verschiedenste Hindernisse, die den Schaffensprozess blockieren. Immer wieder spielt die Malerin dabei mit Gedichten, Abschiedsbriefen und persönlichen Schriftstücken, die oft als Basis der Kunst funktionieren. „Schriftzüge bilden immer den Anfang meiner Bilder, in denen ich versuche, Lösungen für die Ideen und Gedanken in meinem Kopf zu finden“, erklärt die Künstlerin. Die diesjährige Frühlingsausstellung liege ihr besonders am Herzen, weil ein Großteil der übergroßen Werke erstmals öffentlich aushänge, freut sich Kelley.

Führungen, Formate und Tickets

Spannende Rundgänge und Präsentationen ergänzen die saisonale Frühlingsausstellung. Während Künstlerin Margaret Kelley am 30. März, 27. April, 11. und 25. Mai durch ihre Ausstellung führt, erzählt Bildweberin Ursula Jaeger am 13. April, 18. Mai sowie 8. Juni die interessanten Geschichten hinter ihren Werken. Zur Sonderausstellung ‚Wiederentdeckt: Hanna Ahrens‘ bietet die Worpsweder Kunsthalle eine Kuratorinnenführung mit Cornelia Hagenah am ersten Maisonntag und einen Vortrag mit Frank Fenken am 10. Mai.

Ticketpreise für das Frühjahrsprogramm liegen in den einzelnen Museen zwischen 7 und 9 Euro, ermäßigt bei knapp 5 Euro. Die Karte Museum4 ermöglicht den einmaligen Besuch aller Häuser für 25 Euro (ermäßigt 15 Euro). Ein ganzes Jahr Kunst gibt es mit dem Jahresticket der Worpsweder Museen, der MuseumsCard. Für 49 Euro bzw. ermäßigte 29 Euro – für alle Bewohner:innen des Landkreises Osterholz – erhalten Inhaber:innen 365 Tage Eintritt in die drei großen Kunststätten von Worpswede sowie Das Haus im Schluh. Geöffnet sind Barkenhoff und Große Kunstschau täglich von 8 bis 18 Uhr – lediglich die Kunsthalle gönnt sich am Montag einen Ruhetag.


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