Ist "Wokeismus" noch zu retten?
Seit dem 7. Oktober 2023 ist das, was in Deutschland von der Linken noch übrig geblieben war, so zerstritten und kaputt wie eigentlich noch nie. Geht es um den sogenannten Nahostkonflikt, schraubt sich der Ton allseitig in die Höhe, wird unerbittlich und oftmals schrill. Die Selbstverständlichkeit, mit der auf beiden Seiten - der propalästinensischen wie auch der israelsolidarischen - über die Toten der jeweils anderen hinweggegangen wird, ist immer wieder atemberaubend.
Das Massaker der Hamas am 7. Oktober hat die Fronten jedenfalls weiter verhärtet. Das war vielleicht erwartbar, manche Volten hätte man dann so aber doch nicht erwartet. Ausgerechnet eine feministische Theoretikerin wie Judith Butler meinte anzweifeln zu müssen, dass die sexualisierte, extreme Gewalt, die einen Kern des Massakers ausmacht (Frauen wurden auf Leichenhaufen vergewaltigt), wirklich stattgefunden hat, und erst einmal Beweise einforderte für Geschehnisse, die zum damaligen Zeitpunkt längst bewiesen waren. In der Verhärtung Butlers, die es ihr erlaubte, über die Gewalt und das Lachen der Täter hinwegzusehen, verschwanden nicht zuletzt feministische Mindeststandards. Zum Beispiel der, dass man die Berichte von Opfern nicht abwehrhaft für Lügen und Propaganda hält, weil sie einem nicht ins Weltbild passen. Es war schon sehr erstaunlich und auch etwas widerwärtig anzusehen.
Rettung vor blindem Aktivismus
Um dieses, wenn man so will, Weltbild geht es dem Musik- und Kulturkritiker Jens Balzer in seinem Essay „After Woke“. Balzer sieht die woke Linke - wer genau dazu gehört und wer nicht, bleibt etwas undeutlich - spätestens seit dem 7. Oktober auf einem Irrweg und eigentlich bereits komplett desavouiert. Jetzt zeigt sich laut Balzer, wie falsch es ist, den Nahostkonflikt auf der Schablone des europäischen Kolonialismus zu deuten, auf der die Israelis dann als „weiß“ gelesen und in eine Reihe mit den Kolonisatoren des 19. und 20. Jahrhunderts gestellt werden. „Demzufolge sind die Palästinenser*innen ein indigenes Volk, das ursprünglich auf einem Territorium gewohnt hat, das ihnen dann von weißen Kolonialist*innen entrissen worden ist“, fasst Balzer die vulgär-postkoloniale Perspektive zusammen. „Mit der komplexen Geschichte der Migrationsbewegungen und Vertreibungspolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - der Flucht und Vertreibung von jüdischen Menschen aus Europa, aber auch aus arabischen Ländern sowie der Vertreibung von arabischen Menschen aus dem in Gründung befindlichen Staat Israel - hat diese übersichtliche Schematisierung wenig zu tun.“
Im mittelschlimmen Fall ist das Ergebnis also eindimensional, ahistorisch und unterkomplex. Im schlimmsten enden postkoloniale Theorie und Praxis, wenn es um Israel geht, pfeilgrad in antisemitischen Projektionen. Balzer: „Dass ‚verirrte‘ Linke sich als ‚Queers for Palestine‘ für ein misogynes, eliminatorisch homo- und transphobes, islamistisches Regime engagieren - dazu kann man sagen, dass sie in diesem Fall gegen ihre eigenen Interessen argumentieren und handeln, aus politischer Unkenntnis, aus ideologischer Verblendung, vielleicht auch nur aus Opportunismus angesichts einer mehrheitlich antiisraelischen und antisemitischen Stimmung in sich als avantgardistisch begreifenden kulturellen und subkulturellen Kreisen.“
Balzer wirft ein paar Schlaglichter auf den spätestens seit den Wahnvorstellungen der Nation of Islam im antikolonialen Befreiungskampf immer wieder aufscheinenden Antisemitismus, ohne diesen Kampf komplett zu verabschieden. Sein Buch heißt „After Woke“ und nicht „The End of Woke“ oder ähnliches. Es geht ihm darum, mit Vertretern des Postkolonialismus wie Paul Gilroy und Cornel West im Gepäck, die antikoloniale Theorie als wissenschaftliche Theorie und Geschichtsschreibung vor einem blindwütigen Aktivismus zu retten. Und die diskursethischen Ansprüche des sogenannten woken Denkens zu bewahren. Auch wenn Letzteres wesentlich diffuser zu bestimmen ist als der Kanon der postkolonialen Theorie.
Identitäre Blockbildung
Die Grundideen des Wokeismus nämlich seien richtig und bewahrenswert: Achtsamkeit hinsichtlich sexistischen und rassistischen Denk- und Sprechweisen, Hinterfragung der eigenen unbewussten Rassismen, der Versuch, alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Klassenlage gleichberechtigt am Diskurs und an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen teilhaben zu lassen. Alles das entspreche im Groben schon der Diskursethik von Jürgen Habermas, den Balzer als eine Art heimlichen Ahnen des woken Denkens präsentiert.
Allerdings haben Achtsamkeit, Sprachsensibilität und Antirassismus nicht verhindert, dass alles das zu einer identitären Blockbildung geführt hat, in deren Logik wesenhaft „schwarze“, kolonialisierte Menschen gegen wesenhaft „weiße“ Kolonisatoren kämpfen. Und wenn zur Identitätsbildung dann noch, wie im Falle vieler überhitzter Debatten zurzeit, ein unbewusster Antisemitismus hinzutritt, geht es richtig rund.
Gegen die identitäre Blockbildung führt Balzer schon geradezu klassisch für Leser:innen, die mit der Pop- und der postmodernen Theorie der Neunzigerjahre aufgewachsen sind, die Schönheit des Hybriden und die progressiven Potenziale der Vermischung ins Feld. Identität sollte nicht von der Vergangenheit, sondern, mit Stuart Hall, von einer als offen verstandenen Zukunft her gedacht werden.
Das klingt alles sehr schön und plausibel. Es bleibt allerdings die Frage, ob die Feier des Hybriden nicht eher ein Gedankenspiel bleibt und die Konflikte, Kämpfe und oftmals verdrucksten Vernichtungsfantasien, die immer dann aufscheinen, wenn Israel als Staat das Existenzrecht abgesprochen wird, mit dem Gegensatz „starr-identitär“ und „multiperspektivisch-hybrid“ am Ende eher wenig zu tun haben. Zumal die hybride Perspektive, wie er selbst einwendet, auch - wie von Butler - antisemitisch gegen Israel gewendet werden kann, weil es sich weigert, seinen jüdischen Charakter aufzugeben.
Jedem seine Leerstelle
Balzer antwortet auf sein eigenes Staunen und Entsetzen über den rapiden Zer- und Verfall der Linken, indem er ihn in den Kategorien der Poptheorie der Neunziger- und Nullerjahre theoretisiert und in ihr außerdem einen gangbaren Ausweg aus der Misere sieht. Das kann man machen. Aber wirklich erklären kann man sich die Idee, die Hamas sei eine Widerstandsorganisation (und keine antisemitische Terrorvereinigung), nicht, wenn man ihre Genese primär auf die Auswüchse postkolonialer Theoriebildung und eines identitären Antirassismus rückbezieht. Die, um es selbst einmal identitär zu formulieren, Wurzeln des Problems sind älter. Und so sind die stärksten Passagen des Textes dann auch die, denen man die Fassungslosigkeit ihres Autors anmerkt.
Über die Tausenden toten Zivilisten seit dem Beginn des brachialen Gegenschlags der israelischen Armee und über das Leid der palästinensischen Bevölkerung, die von der Hamas für deren antisemitischen Kampf verheizt wird, liest man bei Balzer nichts. Jedem seine Leerstelle.