October Twilight Zone
Es ist wieder Oktober in Deutschland. Normalerweise bedeutet Oktober: Ein neues Semester geht los, Mietverträge werden aufgelöst oder geschlossen, der Sommer ist vorbei und der Jahresendspurt rückt näher. Doch dieser Oktober ist anders.
Diesen Oktober jährt sich das Massaker mit genozidalem Charakter der Hamas. Was folgte, ist ein Jahr Krieg im Gazastreifen, der unbeschreibliches Leid verursachte und dem kein Ende in Sicht ist. Noch immer werden über 100 Geiseln in Gaza festgehalten, noch immer müssen Unschuldige sterben. Schon vor Monaten war abzusehen, dass auch Israels nördliche Grenze mit dem Libanon zu einem neuen Kriegsschauplatz werden wird. Seit Monaten beschießt die dort ansässige Terrormiliz Hisbollah den Norden Israels. 70.000 Menschen mussten im Norden Israels dauerhaft ihre Häuser verlassen, da sie Ziel der Angriffe der Hisbollah geworden sind. Nachdem man auf spektakuläre Weise die Kommunikationsinfrastruktur der Hisbollah lahmgelegt hatte, ihren unnachgiebigen Anführer Hassan Nasrallah tötete und eine Bodenoffensive im Süden des Libanon startete, schaltete sich die Regionalmacht Iran nun direkt ein und beschoss Israel am 30. September mit ca. 180 ballistischen Überschallraketen, die Israel erfolgreich durch seine Verteidigungssysteme abwehren konnte. In Israel gab es einige leichte Verletzte, in der Westbank wurde ein Palästinenser von herabfallenden Raketenteilen getötet. Dieser Krieg geht mittlerweile weit über den Gazastreifen hinaus und hat das Potenzial, die Karten der gesamten Region neu zu mischen. Doch wie sieht die Lage 3.000 Kilometer weiter bei uns in Deutschland aus? Auch hier spüren wir ganz nah und auch ganz brutal die Folgen dieser Katastrophe. Sowohl Antisemitismus als auch der Rassismus schossen in die Höhe. Für viele Menschen bietet dieser Konflikt die Begründung, Menschen zu hassen, sie anzugreifen, sie zu terrorisieren und ganz viel auf ihre konstruierten Feindbilder zu projizieren. Wir erleben Debatten zum Thema Meinungsfreiheit, die eher Debatten über Deutungshoheit sind. Wir erleben eine ganz erbärmliche Reaktion der Politik, die völlig überfordert mit der Situation ist und außer hübschen Sonntagsreden nichts zu bieten hat. Die Pressefreiheit wird angegriffen oder infrage gestellt. Es wird viel über Deutschland diskutiert, obwohl es gar nicht um Deutschland geht. Identität ist das wichtigste Thema für alle Beteiligten, und nur wenige sind bereit, die Seite der anderen zu sehen und zu respektieren. Das Ganze reiht sich ein in die Sinnkrise der liberalen Gesellschaften im Westen, die keine Antworten auf die dringendsten Probleme unserer Zeit zu finden scheint: den Klimawandel, Armut, Strukturwandel und den Aufstieg des Rechtsautoritarismus.
Vor einem Jahr schrieb ich, dass der 7. Oktober die jüdische Welt für immer verändern wird und ich sollte Recht behalten. Wir sprechen nun regelmäßig über die Zeit von „vor“ dem 7.10. und der „danach“, doch wie lange dauert es, bis wir aus dieser Twilight Zone herauskommen und über das „jetzt“ reden?
Der Autor ist Mitglied in der Jüdischen Gemeinde Bremen. Er ist aktiv im Jungen Forum Der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bremen und studiert aktuell im Master Politikwissenschaften an der Universität in Münster.