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Interview: Tatort im Abseits

Zum 80. Jahrestag der Befreiung von Sandbostel erklärt Andreas Ehresmann im Interview, warum Gedenken kein Ritual bleiben darf.

Andreas Ehresmann leitet die Gedenkstätte Lager Sandbostel, die am 29. April 1945 von britischen Soldaten befreit wurde.

Andreas Ehresmann leitet die Gedenkstätte Lager Sandbostel, die am 29. April 1945 von britischen Soldaten befreit wurde.

Bild: Archiv (rgp)

Sandbostel. Am Nachmittag des 29. April 1945 wurden rund 14.000 Kriegsgefangene und 7.000 KZ-Häftlinge im Kriegsgefangenenlager X B Sandbostel von britischen Truppen befreit. Am 80. Jahrestag der Befreiung plant die Gedenkstätte ein umfangreiches Programm mit geführten Rundgängen in verschiedenen Sprachen, einem Erzählcafé sowie einer Gedenkveranstaltung mit Angehörigen und internationalen Gästen. Wir haben im Vorfeld mit Andreas Ehresmann über lebendige Erinnerungskultur und die Besonderheiten der noch jungen Gedenkstätte gesprochen.

 

Ein Gedenkort im Schatten

ANZEIGER: Worin liegt die historische Besonderheit des Stalag X B Sandbostel im Vergleich zu Orten wie Buchenwald oder Bergen-Belsen?

Ehresmann: Sandbostel war ein Kriegsgefangenenlager unter der Verantwortung der Wehrmacht, nicht – wie Buchenwald oder Bergen-Belsen – ein Konzentrationslager unter der Kontrolle der SS. Das ist eine grundlegende Unterscheidung. Während in den Konzentrationslagern keinerlei internationale Standards galten, galt in den Kriegsgefangenenlagern formal das Genfer Abkommen von 1929. Ein Großteil der darin enthaltenen Vereinbarungen wurden auch tatsächlich eingehalten, gegen einige wurde allerdings systematisch verstoßen. So etwa bei der Ernährung und der Unterkunft. Hunger, Krankheit, fehlende medizinische Versorgung und menschenunwürdige Unterbringung waren vielfach Realität. Das Abkommen galt jedoch nicht für sowjetische Kriegsgefangene - ihnen wurde jegliche Rechte vorenthalten.

In der Wahrnehmung der Erinnerungsorte steht Bergen-Belsen für eine jüdische Erinnerung an den Holocaust und Buchenwald vor allem bis 1989 für den kommunistischen Widerstand. Beides sind Gedenkstätten, die schon in den in den 1950er-Jahren eröffnet wurden: Bergen-Belsen 1952, Buchenwald 1958 als nationale Mahn- und Gedenkstätte. Die Gedenkstätte Lager Sandbostel ist mit der offiziellen Eröffnung 2013 im Vergleich hingegen noch sehr jung und wird erst langsam in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen.

 

Wie steht es um die Anerkennung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern als Opfergruppen des Nationalsozialismus?

Im bundesdeutschen Erinnerungsdiskus wird das Schicksal der Kriegsgefangenen im Allgemeinen und der sowjetischen Kriegsgefangenen im Besonderen bis heute nachgeordnet behandelt. Man kann zwar nicht mehr von einer vergessenen Opfergruppe sprechen, denn zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und einige Dokumentarfilme behandeln das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Aber außerhalb dieser Fachöffentlichkeit ist es bis heute noch nicht wirklich durchgedrungen, bzw. internalisiert, dass es sich insbesondere bei dem Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen um ein von der Wehrmachtsführung systematisch geplantes und durchgeführtes Massenverbrechen mit zwischen 2,6 und 3,3 Millionen Toten handelt. Also um einen Massenmord ungeahnten Ausmaßes.

Auch in der deutschen Erinnerungskultur wird nur partiell der Kriegsgefangenen gedacht - Vertreter der Landes- oder Bundespolitik sind nur selten bei den Gedenkveranstaltungen. Der Besuch des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck am 6. Mai 2015 auf dem Lagerfriedhof des Stalag 326 Senne in Schloss Holte-Stukenbrock war da lange eine große Ausnahme. Sechs Jahre später hat Bundespräsident Frank Walter Steinmeier an mehreren Orten Deutschlands, unter anderem auch in der Gedenkstätte Lager Sandbostel, der sowjetischen Kriegsgefangenen gedacht. Steinmeier betonte, dass es sich bei den sowjetischen Kriegsgefangenen um eine Opfergruppe handelt, die in der deutschen Erinnerung weitgehend vergessen ist und die immer noch im Schatten geblieben ist. Aber auch die hochrangigen Besuche von Gauck und Steinmeier haben nicht wirklich zu einer dauerhaften Implementierung des Schicksals der sowjetischen Kriegsgefangenen im deutschen Erinnerungsdiskurs beigetragen.

 

Wie sichtbar ist Sandbostel heute in der nationalen Erinnerungskultur?

Die Gedenkstätte Sandbostel hat sich seit dem Umzug auf das historische Lagergelände 2007 und der offiziellen Eröffnung 2013 kontinuierlich weiterentwickelt. Sie ist heute eine mittelgroße Gedenkstätte mit zwei Dauerausstellungen, umfassender pädagogischer Arbeit, einem Archiv und einer wissenschaftlichen Bibliothek. Besonders herausragend ist der bundesweit einzigartige Bestand von sieben erhaltenen Holzbaracken – bauliche Originalsubstanz, wie sie in dieser Form kein zweiter Ort bietet.

Dank umfassender Netzwerk- und Gremienarbeit sind wir in der bundesweiten Gedenkstättenszene durchaus bekannt und werden als aktiver Akteur in der nationalen Erinnerungsarbeit wahrgenommen. Äußerungen wie beispielsweise die öffentliche Erklärung zum völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, eine Woche nach dem Beginn des vollflächigen Angriffs am 22. Februar 2022, werden bundesweit wahrgenommen.

 

Zwischen Gedenkroutinen und politischer Wirksamkeit

Wie verhindert man, dass Gedenken zur bloßen Pflichtübung wird?

Ich denke, dass wir das Gedenkens an die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht auf die jährliche Kranzniederlegung reduzieren dürfen. Es braucht eine vielfältige, lebendige Erinnerungskultur, die unterschiedliche Formate und Zielgruppen anspricht - auch mit modernen Formaten. In Sandbostel veranstalten wir in Kooperation mit kirchlicher Friedensarbeit mittlerweile zum dritten Mal ein großes Friedensfestival. Bands unterschiedlichster Musikrichtungen treten auf, im letzten Jahr kamen über 650 Besucher:innen – viele davon zum ersten Mal. Das sind wichtige Brücken in die Gesellschaft.

Andere Gedenkstätten öffnen sich ebenfalls neuen Ausdrucksformen: HipHop-Workshops, Comics, TikTok-Formate, VR- und AR-Projekte. Gerade junge Menschen lassen sich so erreichen – wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet. Voraussetzung sind allerdings nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch pädagogisches und technisches Know-how. In Sandbostel fehlen dafür aktuell noch Ressourcen und Personal.

 

Welche Rituale sind notwendig – und welche müssten hinterfragt werden?

Wir dürfen nicht vergessen, dass historische Lagerorte wie Sandbostel immer auch Tatorte sind. An diesen Orten haben unzählige Menschen gelitten und sind gestorben. Die Lagerstandorte und die Friedhöfe sind Trauerorte für viele Menschen in ganz Europa, an denen ihre Vorfahren gelitten haben und gestorben sind. Daher sind ein gewisser Trauerritus und ein würdevolles Gedenken auch immer eine Frage des Respektes. Das Gedenken muss aber nicht in einem immer gleichen und starren Rahmen ablaufen.

Junge Menschen bringen andere Erwartungen und Perspektiven mit. In Zukunft wird es immer wichtiger werden, ihre Ideen in Gedenkveranstaltungen einzubeziehen - auch wenn das aus einem „traditionellen“ Blickwinkel vielleicht irritieren mag. Ein gutes Beispiel ist die bundesweite Aktion „Lichter gegen Dunkelheit“ zum 27. Januar. Wir haben dabei unsere historischen Baracken in Regenbogenfarben illuminiert – ein Symbol für Frieden, Freiheit und Vielfalt. Damit setzen wir ein klares Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – gerade in Zeiten, in denen solche Tendenzen wieder offen sichtbar werden.

 

Was bedeutet „lebendiges Gedenken“ für Sie – konkret und politisch?

„Lebendiges Gedenken“ heißt für mich: Gedenkstätten dürfen nicht im Erreichten verharren. Wir sollten versuchen, uns den Lebensrealitäten und den geänderten Rezeptionsgewohnheiten unser Besucher:innen in einem gewissen Maß anpassen. Unsere Kernaufgabe ist es, das Wissen über die spezifische Geschichte eines Ortes wie Sandbostel zu vermitteln - das muss aber wahrlich nicht in einem Wissenstest am Ende des Tages münden.

Entscheidend ist, dass unsere Besucher:innen am Ende verstehen, dass die Wehrmacht hier gegen die Genfer Konventionen verstoßen hat und rassistisch motivierte Ungleichbehandlung stattfand. Wenn diese Erkenntnis dann noch dazu führt, dass sich jemand fragt: „Was für ein Mensch will ich sein?“, dann haben wir etwas erreicht. So wird aus historischem Wissen politisches Bewusstsein. Unser Ziel ist ein kritisch-historisches Verständnis, das auch hilft, die Gegenwart zu verstehen und zu bewerten.

 

Den zweiten Teil des Interviews mit Andreas Ehresmann lesen Sie online und in unserer Ausgabe am 10. Mai.


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