Rassismus im Dienst der Verwertung
Rassismus ist mehr als Hass – er ist gesellschaftlich funktional und psychologisch verankert. Im Gespräch mit Patrick Viol vom ANZEIGER erklärt Sozialwissenschaftlerin Ulrike Marz, warum kapitalistische Gesellschaften rassistische Strukturen begünstigen, weshalb Kultur heute als Ersatzbiologie dient – und wie die Kritische Theorie hilft, beides zu verstehen.
ANZEIGER: Ihr Buch "Wut auf Differenz" setzt sich mit Rassismus aus der Perspektive der Kritischen Theorie auseinander. Warum eignet sich gerade dieser Ansatz zur Analyse rassistischer Strukturen?
Marz: Die Kritische Theorie verbindet, vor allem in der ersten Generation – Adorno, Horkheimer, Löwenthal, Marcuse –, die Analyse der Ideologiegenese mit einem psychologischen Blick auf Triebstrukturen und Verarbeitungsformen im Subjekt. Sie betrachtet Phänomene wie Rassismus weder als rein irrational noch rein rational, sondern analysiert, wie subjektive Irrationalitäten funktional verstärkt und politisch bewirtschaftet werden; blickt auf die weitreichenden Auswirkungen des Sozialen in den Subjekten – auf deren Affekte und Sehnsüchte. Seit den 1930er Jahren steht das Wechselverhältnis von Gesellschaft und Subjekt im Zentrum – ein Ansatz, der bis heute relevant ist.
Sie argumentieren, dass Rassismus eine gesellschaftliche Funktion erfüllt. Welche Mechanismen sorgen für seine Persistenz?
Kapitalistische Gesellschaften bieten Rassismus ein Fundament: Er legitimiert zum einen soziale Ungleichheit, etwa durch Erzählungen über mangelnde Leistungsbereitschaft oder kulturelle Fremdheit rassifizierter Menschen. Und er liefert weiter ideologische Begründungen dafür, warum bestimmte Menschen weniger Rechte und Ressourcen erhalten – und stabilisiert damit bestehende Herrschaftsverhältnisse, welche die einen bevorzugen und die anderen benachteiligen. In dieser Weise ist Rassismus funktional für die kapitalistische Verwertungslogik. Er rechtfertigt Ausbeutung und Verelendung.
Sie sprechen von der Verbindung von Rationalität und Irrationalität im Rassismus. Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Rassismus legitimierte einst z. B. die Überausbeutung in der Sklaverei, heute etwa ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und ist damit funktional. Doch er kann auch, bzw. die Verselbständigung rassistischer Vorstellungen im Alltagsbewusstsein, ökonomisch irrational wirken: wenn Unternehmen z.B. in der sächsischen Provinz in strukturell rassistischen Regionen keine Fachkräfte finden, weil diese Übergriffe befürchten; wenn Schulpolitik die Entstehung funktionaler Analphabeten zulässt, weil umfangreiche Förderprogramme an den Ressentiments von Wähler:innen scheitern.
Rassismus ist also ein sehr widersprüchliches Phänomen.
Und geht nicht darin auf, dass er ‚funktional‘ eingesetzt wird – rein rational benötigt der Kapitalismus den Rassismus nicht, er braucht ‚schlicht‘ billige Arbeitskräfte.
Rassismus birgt in seiner Kulturgeschichte und in seiner sozialpsychologischen Konstitution so viel Eigenlogik, dass er nicht ‚an‘- und ‚abgestellt‘, nicht ‚eingesetzt‘ werden kann als Instrument. Er ist also weder notwendiges Funktionsprinzip des Kapitalismus, noch kann er deterministisch aus dem Subjekt abgeleitet werden. Dennoch hat Rassismus eine strukturelle Dimension – d.h. er entwickelt sich aufgrund von Voraussetzungen, die er in der kapitalistischen Gesellschaft findet. Phantasien, wie die vom ‚großen Austausch‘, haben ein reales Fundament in spezifischen Grundbedingungen kapitalistischer Gesellschaft wie der prinzipiellen mit Lohnarbeit und Mehrwertproduktion einhergehenden Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit der abstraktifizierten menschlichen Arbeitskraft. Die Irrationalität des Rassismus bezieht ihre Ansteckungsfähigkeit und psychologische Plausibilität daher auch aus der Rationalität kapitalistischer Gesellschaften.
Wie unterscheidet sich der kulturalistische Rassismus vom biologistischen – und warum ist die Unterscheidung wichtig?
Seit den 1950er Jahren - Adorno, aber auch Frantz Fanon haben darauf hingewiesen - ersetzt der sogenannte Neo-Rassismus das Konzept ‚Rasse‘ durch ‚Kultur‘. Er spricht nicht mehr von biologischer Minderwertigkeit, sondern von der Gleichwertigkeit der ‚Völker‘, ‚Kulturen‘. Dabei betont er den Schutz der kulturellen Besonderheiten und die vermeintlich unabänderliche Zugehörigkeit, ja Bestimmtheit der Einzelnen durch „ihre“ Kultur. Neo-Rassist:innen verneinen die Möglichkeit, dass Menschen als Individuen fortlaufend neue, sie selbst und ihre Wahrnehmung verändernde Erfahrungen machen – dass sie in ein veränderndes und facettenreiches Verhältnis zu ihrer ‚Kultur‘ treten können. Gleichsam naturgesetzlich fasst er Menschen als von „Kultur“ bestimmt.
Besonders bemerkenswert ist, wie der Neo-Rassismus sich zu einer Strategie gegen Rassismus stilisiert. Er behauptet dazu, dass Kulturvermischungen zum geistigen Tod der Menschheit führen und eine Verwischung der Differenz zwischen den ‚Kulturen‘ gleichsam ‚natürliche‘ Abwehrreaktionen erzeuge. Wenn also keine Vermischung, dann auch kein Rassismus, so der Gedanke.
Die Kritische Theorie verbindet gesellschaftliche Analyse mit Psychologie. Wie lassen sich individuelle Ressentiments gegen Fremdgruppen psychologisch erklären?
Rassismus ist keine Frage individueller Pathologie, sondern sozialpsychologischer Verarbeitung des Sozialen in Verbindung mit Persönlichkeitsstrukturen. Das rassistische Ressentiment ist Bindemittel politischer Phänomene: mobilisierbar in Massenbewegungen, stimulierbar durch autoritäre Propaganda, prägend für die Rezeption der sozialen Welt. Auf einer psychologischen Ebene kann der Rassismus als Verarbeitungsversuch sozialer Umstände verstanden werden. Dabei spielt insbesondere der psychologische Abwehrmechanismus der Projektion eine bedeutende Rolle: eigene, unerwünschte Impulse werden auf den „Anderen“ übertragen.
Diese Mechanismen wirken in kollektiven Identitätsangeboten – wie ‚Rasse‘, ‚Volk‘ oder ‚Kultur‘ – in einer Gesellschaft, die stabile Identitäten untergräbt, kompensatorisch. Rassistische Identitätspolitik ist Reaktion auf die brüchig gewordene Möglichkeit der Erlangung von Identität in modernen kapitalistischen Gesellschaften.
In Ihrem Buch kritisieren Sie, dass Rassismus oft nur als Problem extremer Rechter verstanden wird. Warum greift diese Sichtweise zu kurz?
Rassismus ist kein Randphänomen. Er findet breite Zustimmung in der gesellschaftlichen Mitte. Menschenfeindliche Einstellungen durchziehen alle Milieus, wie verschiedene Studien zeigen, die Leipziger Autoritarismusstudien oder die Bielefelder Mitte-Studien beispielsweise. Unklar bleibt, ob die rechte Ideologie in die Mitte sickert – oder die Mitte selbst Trägerin rassistischer und antisemitischer Vorstellungen ist, die dann politisch radikalisiert werden. Vermutlich wirken beide Richtungen ineinander.

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