Tom Boyer

From London

London. Unser freier Mitarbeiter Tom Boyer absolviert nach seinem Abi einen einjährigen Freiwilligendienst in London und schreibt nun eine Kolumne darüber.

Früher hat mein Vater immer gesagt, dass Erwachsene dieses oder jenes wegen ihres fortgeschrittenen Alters besser beurteilen könnten - weil sie mehr Lebenserfahrung hätten. Doch kann man etwas besser als andere beurteilen, nur weil man schön öfter die Sonne auf- und untergehen gesehen hat?

Das würde ich bestreiten. Zum einen ist - folgt man Immanuel Kant - Erfahrung nicht die einzige Grundlage unseres Urteilsvermögens. Es gibt da noch die Vernunft. Und von welcher Wirkmächtigkeit die im Einzelnen ist, entscheidet nicht das Alter. Es kann sie begünstigen, muss es aber nicht. Wo der Lebensweg zu Resignation geführt hat, macht sich nicht selten der Defätismus der Vernunft breit.

Zum anderen sind fortgeschrittenes Alter und Lebenserfahrung nicht dasselbe. Nur weil man länger als jemand anderes auf der Welt ist, hat man nicht zwingend mehr erlebt und mehr Erfahrung gemacht. Wer jeden Tag das gleiche erlebt, macht keine Erfahrung, sondern erleidet Wiederholungen. Um Erfahrungen zu machen, muss sich das Erlebte voneinander unterscheiden. Das ist aber sehr schwer, wenn man immer am selben Ort lebt, immer dieselben Dinge tut und dieselben Menschen trifft und die Welt nur aus den Medien kennt, sei es aus Zeitungen oder Filmen. Natürlich ist manchen Menschen nur dieser Zugang möglich, aber man sollte bedenken: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, die sich die Welt nicht angeschaut haben“. Damit antizipierte Humboldt ein Paradox, das sich heute verstärkt auszubreiten scheint: Je weniger die Leute gesehen und erfahren haben, desto mehr glauben sie über die Welt zu wissen und desto steiler werden ihre Thesen und Vorurteile.

Entsprechend denke ich, dass für richtiges, reflektiertes Urteilen und einen starken Begriff von „Lebenserfahrung“ längeres Reisen bzw. Leben an neuen Orten eine wichtige Rolle für richtiges Urteilen spielt. Social Media, Zeitungsartikel oder Nachrichten reichen alleine nicht aus, um die Welt und all ihre Facetten auch nur ansatzweise zu verstehen.

Immer im gleichen Ort zu bleiben, hat den Lerneffekt eines Social Media Beitrags. Die Inhalte sind im geringen Maß verschieden und langfristig bleibt von den Beiträgen wenig hängen. Eine Reise von einer Woche ist - abgesehen von Malle - vergleichbar mit einem längeren Zeitungsartikel. Die Kernidee bleibt mittelfristig erhalten. Langfristig allerdings nur nach zahlreichen Artikeln und wenn man sich eins kleines Bildungsfundament ins Bewusstsein gegossen hat. Dann sind da noch langfristige Aufenthalte, bei denen man an einem Ort oder mehreren über zahlreiche Wochen oder mehrere Monate lebt. Solches Reisen ist wie ein gutes Buch: Es hat nicht nur am Anfang einen riesigen Einfluss, auch nach längerem zeitlichem Abstand zur letzen Seite bleiben nicht nur die Kerninhalte: Sie haben sich nachhaltig in einem niedergeschlagen.

Es gilt also: Zu Lebenserfahrung führt nicht bloß eine längere Existenz, auch nicht die Würfel Gottes, des Schicksals oder dergleichen, sondern die Welt leiblich zu entdecken. Ich weiß, dass ist vielen Menschen nicht oder nicht mehr einfach so möglich. Aber jungen Menschen bieten dazu - unabhängig von Herkunft oder Vermögen - Freiwilligendienste die Möglichkeit. Man kann ohne Kosten im Ausland leben und dabei noch helfen. Durch die Arbeit vor Ort kommt man mit Menschen und Kultur in Berührung. Je früher man diese Erfahrungen machen kann, desto mehr Einfluss haben sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Verlauf des Lebens. Dann wird es unwahrscheinlicher, sich auf seiner vermeintlichen Lebenserfahrung auszuruhen. Denn Auslernen kann man nie. Nur weil man älter ist, hat man eben nicht automatisch mehr gelernt. Bücher sollte man nicht nur als junger Mensch, sondern das ganze Leben lang aufmerksam und offen lesen.


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