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Heiner Wenk

Kolumne: Panne bei Hinnebeck

Bei bestem Wetter fuhr Heiner Wenk in die Marsch, hatte eine Panne, um beim zweiten Versuch schließlich Siegried Lenz anzutreffen und etwas angesichts der schönen Kulturlandschaft etwas über Pflichtgefühl zu erfahren.

Heiner Wenk unterwegs mit dem Fahrrad nach Hinnebeck.

Heiner Wenk unterwegs mit dem Fahrrad nach Hinnebeck.

Bild: Hnk

Am 21. Mai 2017 hatte Freddy Radeke mit seiner grünen Ente, mit der er gerne an besonders schönen Orten im Bremer Umland liegenbleibt und dann bei „buten un binnen“ über diese Gegenden berichtet, (s)eine Panne bei Hinnebeck. Der Bericht über die 270 Seelen Gemeinde fokussierte insbesondere auf eine Kunstausstellung der Italienern Deborah Brisotto. Mit Kükendrahtfiguren.

Und dann, ein Jahr später, habe ich selbst eine Panne bei Hinnebeck gehabt. Im Februar 2018 sind wir raus aus Bremen gezogen, hierher, in diese Gegend. Meyenburg gehört wie Hinnebeck zu Schwanewede, hat aber eine Kirche, einen Laden, ein Landhaus, eine Wassermühle mit Mühlencafé und eine alte Genossenschaft, wo man Friesentorte bekommen kann.

Von hier aus haben wir dann im Mai - also ein Jahr später als Freddy Radeke und bei genauso gutem Wetter - eine Fahrradtour nach Hinnebeck gemacht. Radeke hat uns neugierig gemacht. Durch die Marsch ging es über die Gräben, bis kurz vor Hinnebeck ein Graben ohne Brücke vor uns lag: Der Weg war einfach zu Ende. Wir mussten umkehren, weil wir nicht den Mut hatten, die Fahrräder hinüberzuschmeißen und hinterherzuspringen, eine Furth gab es hier nicht. Also: zurückfahren. Oder auch nicht: Ich hatte meine Panne bei Hinnebeck. Hinterrad. Für mich: irreparabel.

Eine Woche später verfügt mein Fahrrad über „unplattbare Reifen“, und das Wetter ist pünktlich zum Pfingstfest wieder herrlich. Ein neuer Versuch also. Diesmal allein. Ich nähere mich Hinnebeck von Süden. Von Vorberg aus komme ich in die Hinnebecker Furth - hier gibt es also eine. Hinnebeck hat eine Furth und das rückt diesen Ort in die Nähe von Lübeck und München. Diese Städte wurden alle im 13. Jahrhundert von Heinrich dem Löwen gegründet, und als erstes erhielten sie jeweils eine Furth durch die Trave und die Isar.

Hinter Hinnebeckerfurth - hier gibt es eine Islandpferdezucht, die Tiere grasen auf einer Streublumenwiese - kommt dann der eigentliche Ort: „Junges Dorp unner ole Eken“ steht am Eingang. Ansonsten gibt es im Wesentlichen schöne Einfamilienhäuser und große Bauernhöfe und eine abknickende Vorfahrt: Links nach Neuenkirchen (da ist Freddy Radeke geboren), rechts nach Aschwarden, geradeaus in die Natur bzw. Kulturlandschaft.

Geradeaus geht’s dann auch schließlich nach Aschwarden, mehr gibt’s hier auch nicht. Aschwarden sieht man schon von Weitem in der platten Marschlandschaft. Man erkennt die Mühle und die Kirche. Die Nikolaikirche ist wie eine Keitumer Kirche en miniature, man gedenkt dort auch der Soldaten des Zweiten Weltkriegs mit dem Vers 2 Timotheus 4:7-8: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten…“.

Nun kann man entscheiden, ob man nach Harriersand oder nach Meyenburg weiterfahren möchte. Die Marsch ist riesig, am Horizont: Der Geestrand mit dem Düngelwald. Wie schön Meyenburg am Geestrand gelegen ist. Durch die Wiesen geht es immer geradeaus in Richtung Geest. Unterwegs ein Bienenstock vor einem Rapsfeld, dahinter ein Schöpfwerk, roter Backstein. Mein Langzeitgedächtnis arbeitet im Hintergrund vor dem Grün der Wiesen und dem hohen Himmel: Es sieht aus wie die Gegend, die Siggi Jepsen in „Die Deutschstunde“ von Siegfried Lenz in seinem Deutschaufsatz beschrieb. Es riecht hier auch genauso wie in Nordfriesland, und die Gedenktafel der Nikolaikirche spricht ja auch noch die Sprache des Deutschaufsatzes von Siggi: „Die Freuden der Pflicht“.

Die Fahrradtour nach Hinnebeck endet in Meyenburg beim Herrenhaus Wersebe, bremisches Uradelsgeschlecht. Und dann sitze ich auf der Terrasse und bringe Ordnung in die Landschaftsbilder und Entdeckungen der Fahrt. Schließlich geben sie mehr zu erkennen als das, was ich sah: Dass Ziele nicht nur über einen Weg erreichbar sind. Manche muss man dazu gar abbrechen. Dass die Entdeckung der Schönheit von Kulturlandschaften nicht unmittelbar gelingt, Versuche und ja: Literatur braucht. Und dass man sie kaum ohne den Schrecken der Geschichte erhascht. Um letztlich - Siggi Jepsen im Hinterkopf- zu erkennen: Dass Pflichtgefühl ohne die Erfahrung von Schönheit blinden Gehorsam bedeuten kann, auch Grausamem gegenüber. Dass es aber der Gerechtigkeit dienen kann, wenn der Pflichtbewusste die Schönheit von Kulturlandschaften erfährt - vom gelungen Austausch von Menschen und Natur. - Tja, auch Pannen bringen einen weiter.

 


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