Patrick Viol

Kommentar: Rente gegen Ressentiment?

Die neue Regierung will mit sozialen Wohltaten die AfD-Wähler zurückholen – und verkennt, dass es ihnen längst nicht mehr ums Geld geht. Patrick Viol erklärt, warum der Erhalt des Rentenniveaus kein Mittel gegen Rechtspopulismus ist.

Bild: Adobestock

Den Koalitionsvertrag durchweht ein sozialistischer Ungeist. Ähnlich wie Friedrich Engels, August Bebel und Stalin den Antisemitismus zum „Sozialismus der dummen Kerle“ verharmlosten, sehen Friedrich Merz und Lars Klingbeil in der AfD-Wahl einen fehlgeleiteten Wunsch bildungsentfernter Abstiegsverängstigter nach sozialen und ökonomischen Sicherheiten. Glauben sie doch, wie Lars Klingbeil bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags verkündete, dass sich die „Polarisierung“ innerhalb der Gesellschaft – gemeint ist der Erfolg der AfD – auflöse, wenn die neue Regierung das Leben der Menschen mit Rentenniveauerhalt, Mütterrente, Elterngelderhöhung, Mietpreisbremse, Deutschlandticket, Tariftreue, Mindestlohn und Wachstum „einfacher und gerechter“ mache. Die Wähler der AfD, die laut Ipsos-Umfrage mittlerweile vorne liegt, sollen also durch finanzielle Entlastungen in die sogenannte demokratische Mitte zurückgeholt werden. Nun, das ist – ebenso wie die Ansicht von Engels, Bebel und Stalin über Antisemitismus – ein ökonomistischer Irrglaube.

Die Vorhaben als solche sind natürlich zu begrüßen – sie machen das Leben tatsächlich etwas leichter und verschaffen ein klitzekleines bisschen mehr finanzielle Gerechtigkeit in zwar unsicheren, aber mit Sicherheit den Reichtum weniger weiter vergrößernden Zeiten. Und es ist naheliegend anzunehmen, den AfD-Wählern ginge es „eigentlich“ um sozialpolitische und ökonomische Sicherheiten, da ihre Hauptwähler Arbeiter und Arbeitslose sind, deren Sicherheiten prekär oder von Staates Gnaden unter Vorbehalt stehen.

Aber die – nicht nur von der Politik, sondern auch vom Heer der Haltungsjournalisten, die lieber Gesinnung bekunden als gesellschaftliche Zusammenhänge begreifen – übergangene Tatsache, dass die sozial und ökonomisch strukturell Verunsicherten trotzdem eine Partei gewählt haben, deren völkisch-neoliberale Politik ihnen nachweislich – und diese Nachweise wurden vor der Wahl zigfach erbracht – weder mehr Sicherheit noch mehr Wohlstand, sondern weniger Rechte und weniger Geld bescherte, zeigt, dass es den AfD-Wählern um etwas anderes als politische Almosen geht.

Was das ist, das hat die neurechte Postille Junge Freiheit nach der Ausländer-raus-Abstimmung der Union mit der AfD vor der Wahl bereits fröhlich verkündet: „Deutschland ist wieder normal.“ Und was normal ist, werden Alice Weidel und Konsorten nicht müde zu betonen: Zigeunerschnitzel, Vater-Mutter-Kind-Familien, Zweigeschlechtlichkeit, Nationalismus, kulturelle Homogenität, Atomstrom, Meinungsfreiheit und Verachtung für „die da oben“. Es geht den AfD-Wählern um die moralische Wiederherstellung bestimmter Stabilisierungsfaktoren ihrer Identität, die die Flexibilisierung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und der sie begleitende progressive Neoliberalismus seit den 1990er Jahren in Deutschland angegriffen haben – und an denen sie aufgrund ihres provinziellen Lebens nach wie vor kleben: um das ungestörte Ausleben von Nationalismus, Alltagsrassismus, Alltagssexismus und postnazistisch codierten Alltagsantisemitismus.

Diese Ideologien animieren nicht unmittelbar zum Totschlag und treiben nicht direkt in den Faschismus, wie begriffslose AfD-Gegner heute glauben. Sie tragen vielmehr zum funktionalen Totschlagen von Lebenszeit und dem Erhalt des Status quo bei. Die mit ihnen vollzogenen Abgrenzung nach unten, innen, zur Seite und oben sind die charakteristischen Formen, in denen die Menschen unbewusst versuchen, ihr unlösbares Identitätsproblem und ihre Entwertungsangst, die ihnen die Lohnarbeit bereitet, zu bewältigen.

Da die Identität des lohnarbeitenden bürgerlichen Subjekts seine Produktivität ist, diese aber dem Zufall der Verwertung über den Markt unterliegt, kann es aus sich heraus keine Identität gewinnen und bleibt daher in sich selbst gespalten – wodurch es der Angst, ins Nichts zu fallen, grundsätzlich und in Permanenz ausgesetzt ist. Alltagsrassismus und -antisemitismus ermöglichen es, die Entwertungsangst, Ohnmachtserfahrungen und tabuierte Allmachtsfantasien auf andere zu projizieren und an ihnen zu verachten, um sich selbst als funktionale Einheit zu erfahren. Der Nationalismus ist ein kollektiver Narzissmus, der dem für den gesellschaftlichen Verlauf gleichgültigen Individuum illusorisch Wert und Handlungsmacht als Teil einer größeren Gemeinschaft verleiht.

Diese - mit Freud gesprochen - Schiefheilungen der subjektiven Dauerkrise entspringen also zwar der allgemeinen ökonomischen Unsicherheit und der von ihr bedingten gesellschaftlichen Autonomieverweigerung. Aber als entsprungene entwickeln sie in der Bedürfnisstruktur der Menschen ein nicht mehr mit Almosen abzutötendes Eigenleben. - Diese Macht des identitären Bedürfnisses wird seit jeher und anhaltend von linken wie rechten politischen Kräften entweder verdrängt, rationalisiert oder mobilisiert, aber nie ernsthaft bekämpft. Und weil der von allen Parteien in den letzten Jahren getragene progressive Neoliberalismus Antirassismus und Antisexismus zur neuen deutschen Leitkultur erhoben hat, wurden für viele Menschen die Möglichkeiten, ihre Identität auf regressive, aber "moralisch normale" Weise zu stabilisieren und ihre autoritären Bedürfnisse zu befriedigen, abgeschnitten. Was die objektive Sinnlosigkeit ihres Lebens subjektiv erschwert, zu verdrängen. Weshalb sie immer aggressiver und gefährlicher werden. So gesehen geht es den AfD-Wählern also schon um Sicherheit – aber nicht um finanzielle, sondern um identitäre Sicherheiten, die helfen, die strukturellen ökonomischen Unsicherheiten und die daraus folgende Ohnmacht, die zu überwinden man eh nicht glaubt, auszuhalten.

Und solange wir in einer Gesellschaft leben, die Mütterrente und Deutschlandticket zwar zahlt, in der das Subjekt aber von seiner Arbeit zerrissen und in einen Identitätswahn gestürzt wird, bleiben die Polarisierungen so stabil wie der politische Wille, ihre Ursachen konsequent zu ignorieren.


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