Benjamin Moldenhauer

Pause fürs Besserwissen

Benjamin Moldenhauer fand den ersten „Alles steht Kopf“-Film schon sehr gelungen. Und auch den zweiten kann er aufgrund seines Verständnisses für die Untiefen der Adoleszenz sehr empfehlen.
Im Central Theater Osterholz-Scharmbeck und im Filmpalast Schwanewede kann man die personifizierte „Anxiety“ kennenlernen.

Im Central Theater Osterholz-Scharmbeck und im Filmpalast Schwanewede kann man die personifizierte „Anxiety“ kennenlernen.

Bild: Universal Music

Wie zeigt man Gefühle auf der Leinwand und lässt sie nach außen hin sichtbar werden? Das klassische Mittel des Kinos ist hier, anders als im Theater, das extreme Close-up auf ein Gesicht. Im Mienenspiel spiegelt sich das Innere. Es war vor der Erfindung des Kinos nur im Intimen oder im medizinischen Bereich möglich, das Gesicht eines anderen Menschen aus einer derart extremen Nähe zu betrachten, ohne übergriffig zu werden.

Die Filme der Disney-Studios, die 2006 das damals innovativste Animationsstudio Pixar aufgekauft haben, sind seit jeher bevölkert von Kindchenschema-Gesichtern, meist denen von Tieren, deren Zentrum von riesigen Kulleraugen gebildet wird. Alle und insbesondere die Basisemotionen zeigen sich in diesen Gesichtern in mimischer Überdeutlichkeit, die das alles kultur- und altersübergreifend universalverständlich werden lässt.

Der Aufkauf des eben erwähnten Pixar Studios hat für Disney so etwas wie einen Innovationsschub bedeutet. Pixar brachte einen neuen Ton ins Genre des Kinderanimationsfilms, die Erzählungen und Bilder waren immer wieder überraschend, entkitscht, ironisch (mit Abstufungen für alle Altersstufen) und entmythologisiert, was den Weg freimachte für mehrschichtigere, psychologisch plausible Figuren, die nicht mehr nur Stereotypen, sondern runde und komplexe Charaktere sein durften.

 

Wirren der Vorpubertät

Am klarsten zeigt sich diese neue Komplexität in dem 2015 erschienenen Pixar-Film „Alles steht Kopf“, der im Original den passenderen und schöneren Titel „Inside Out“ trägt. Das Sequel „Alles steht Kopf 2“ ist zurzeit im Central Theater Osterholz-Scharmbeck und im Filmpalast Schwanewede zu sehen und schließt an den ersten Teil nahtlos an. Wir sehen nicht nur die Konflikte, Kämpfe, Gefühle und Triumphe der Heldin Riley, sondern auch die Konflikte, Kämpfe und Triumphe ihrer Gefühle selbst. Etwa die Hälfte des Films spielt im kognitiven Apparat von Riley, und die eigentlichen Heldinnen und Helden sind ihre Basisemotionen: Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel.

Alle fünf werden in Rileys erster kindlichen Verlustkrise - Umzug in eine andere Stadt, Abschied von den alten Freunden - ausdauernd mobilisiert und bekommen viel Gelegenheit für Expression und Hochkomik. Kummer und Angst in diesem Fall natürlich vornweg, während die eigentliche Protagonistin des Films, Freude, versucht zu verhindern, dass die schönen Kindheitserinnerungen im Zuge der Misere im Vergessen versinken.

Im Sequel rasselt Riley gleich zu Anfang mit Karacho und ohne Notbremse in die Wirren der Vorpubertät. Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel bekommen neue Kollegen in die Schaltzentrale: Zweifel, Neid, Ennui und Peinlichkeit. „Zweifel“ ist allerdings nicht gut übersetzt. Im Original heißt der Antagonist von Freude, der versucht, das Regiment zu übernehmen, „Anxiety“, und die diffuse pubertäre Angst und Sorge ist nun einmal etwas ganz anderes, als der Zweifel, der einen im Zweifelsfall ja eher souverän werden lässt.

Riley versucht, in einer neuen Eishockeymannschaft zurechtzukommen und Anschluss an die coolere Peergroup zu finden, Anxiety und Freude ringen also mit vollem Körpereinsatz um die Dominanz in der Kommandozentrale. Auch „Alles steht Kopf 2“ inszeniert Entwicklungspsychologie als wunderschön anzusehende Hochgeschwindigkeitsaction: Erinnerungen schießen durch Rohrpostkanäle, die Emotionen fliegen hoch, und pubertärer Sarkasmus löst ein kleines Erdbeben im seelischen Apparat aus. Am Ende dann natürlich erneut Katharsis (nach wie vor bei Disney, auch bei den Pixar-Filmen obligatorisch: das Happy End).

 

Souveränität hat Pause

Das alles macht großen Spaß, ist psychologisch, wie gesagt, stimmig und schafft Verständnis für die Untiefen der Adoleszenz, bei den direkt Betroffenen wie auch bei den Erziehungsberechtigten. Auch in diesem Sinne ist „Alles steht Kopf 2“ ein formvollendeter All-Ages-Familienfilm.

Der Filmkritiker Wolfgang Schmitt, der Filme auf ideologiekritische, aber nicht selten schematische Weise analysiert, wiederum sah im ersten Teil eine „gefährliche“ Verbildlichung der Psyche und diagnostizierte einen „neurowissenschaftlichen Reduktionismus“ beziehungsweise einen „völligen Determinismus“. Das ist einerseits eine etwas sehr grobe Lesart, die den „Alles steht Kopf“-Filmen mehr aufbürdet, als sie selbst ins Bild setzen wollen, nämlich den Anspruch, über Personifizierungen ein vollständiges Bild der menschlichen Psyche zu entwerfen. Was dabei hinten überfällt, ist das Spielerische, Selbstironische, das in diesen Bildern immer mitschwingt. Trotzdem trifft Schmitt einen Punkt, indem er eine Leerstelle benennt: Was bei allen Emotionen, Erinnerungsinseln und Eigenschaftsclustern fehlt, ist so etwas wie eine Ich-Instanz oder auch ein Bewusstsein, das sich selbst reflektieren würde.

Aber vielleicht ist das dann auch wieder das Schöne, das man erst erkennt, wenn man Animationsfilme als Medien von Phantasien und Trost versteht und nicht zuallererst als Objekte von Ideologiekritik. Es ist immer hilfreich, bei aller Kritik, den Maßstab und die Logik des jeweiligen Genres, das man in den Blick nimmt, zumindest mitzudenken und im besten Falle ernstzunehmen. „Tröstende Phantasie“ heißt hier: Alle Gefühle kommen in den „Alles steht Kopf“-Filmen als das, was uns bestimmt, beglückt und quält, zu ihrem vollem Recht. Und die Reflexion, das Bescheid- und Besserwissen und damit auch die Souveränität haben vorübergehend eine wohlverdiente Pause.


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