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01:32 Auf der Straße schreit eine betrunkene Frau dem wegfahrenden Bus hinterher. Ein paar Jugendliche beobachten sie und lachen. Und da fällt er – der neue Begriff für wütende Frauen: Karen. Die Frau tut mir Leid. Mitten in der Nacht den Bus zu verpassen und weiß Gott wie lang auf den nächsten warten zu müssen oder zu viel Geld für ein Taxi zu zahlen, ist an sich schon scheiße. Aber dann auch noch die lachenden jungen Menschen und dieser infame Begriff. Es ist so gemein.
Die wütende Frau ist in den letzten Jahren in Verruf gekommen. Vor allem durch einen Begriff – Karen. Er tauchte auf im Internet vor etwa acht Jahren und trat seinen weltweiten Siegeszug an. Zuerst im englischsprachigen Internet und mittlerweile ist er auch in der deutschen Provinz angekommen. Was ist eine Karen?
Sie ist die Ausgeburt der Mittelklasse Durchschnittsfrau, die sich für überlegen hält, aber eigentlich nur ihre Aggressionen an (vermeintlich) Schwächeren ausagiert. Die blonde Frau mit kurzem Haar, die einen Supermarktmitarbeiter anschreit, einen Vorgesetzten verlangt, wenn ihre dreisten Forderungen nicht erfüllt werden oder gleich mit dem Anwalt droht bei kleinsten Unannehmlichkeiten.
Dieser Begriff hat seine Berechtigung in seiner ursprünglichen Form, zielte er sich auf ein gewisses ungerechtfertigtes Anspruchsdenken und narzisstische Züge ab. Aber mittlerweile hat er sich verselbstständigt und wird jeder wütenden Frau als degradierendes Label angeklebt.
Früher nannte man wütende Frauen hysterisch, heute sind sie Karens. Dabei haben gerade Mittelklassehausfrauen doch Grund genug wütend zu sein. Enttäuscht vom Leben, so hatten sie sich das nicht vorgestellt. Und dann schreit man aus lauter Frust und Ohnmacht den noch ohnmächtigeren Restaurant- oder Callcentermitarbeiter an.
Eigentlich klingt wütend sein danach, als sei es eine gesunde Reaktion. So wie Depressionen, die kommen auch nicht aus dem Nirgendwo, sondern sind Resultat von miesen Lebensbedingungen. Das einzige Problem, dass ich im klassischen Karen Beispiel sehe, ist das völlig falsche Ziel. Das ist das Problem mit weiblicher Wut: Sie darf eigentlich nicht da sein, sie wird lächerlich gemacht, nicht ernst genommen. Jede Frau kennt solche Geschichten – nicht für voll genommen zu werden, aus den verschiedensten Gründen – zu jung aussehend, zu sexy, zu hässlich, zu alt, zu hohe Stimme, zu tiefe Stimme. Es ist egal, die einzige Gemeinsamkeit ist – sie sind Frauen. Und wütende Frauen sind eben alle lächerlich. Oder verrückt. Lächerliche Karen. Bei dieser Lächerlichmachung - wie damals bei der Hysterie - geht es darum, den Frauen ihre Wut zu nehmen. Hierbei handelt es sich keinesfalls um irgendein Komplott der Männer, das machen die Frauen genauso. Das machen wir alle zusammen – am Ende nennt sich das Tradition oder Kultur.
Wir alle haben irgendwie einen schiefen Blick auf die weibliche Wut. Klar wird das, wenn wir sie mit der männlichen vergleichen. Männliche Wut ist facettenreicher – mal gefährlich, weil sie sich in Zerstörung von Körpern und Dingen äußert. Mal gerechtfertigt, weil sie sich gegen Unrecht wendet. Auch mal lächerlich, oder traurig, oder lehrreich, beeindruckend… und so weiter. Männliche Wut ist ein weites, facettenreiches Spektrum. Die weibliche nicht. Ihr bleibt meist nur die Lächerlichkeit. Und die heutige Verkörperung ist eben die Karen. Die middle aged Lady - die „alte weiße Frau“, die keiner mehr braucht. Weil sie den Schönheitsidealen nicht mehr entspricht und ihre Rolle als Gebärerin des Stammhalters längst hinter sich hat. Die Terrororganisation RAF sah damals in Hausfrauen potenzielle Sympathisanten und Mitglieder. Als ich das vor vielen Jahren las, fand ich das lustig. Heute verstehe ich diese Idee viel besser. Auch wenn mir Terrorismus als kein legitimes, demokratisches Mittel erscheint, so wahr ist es, dass es hier ein gesellschaftliches Problem gibt.
Deshalb sollten mehr Frauen wütend sein. Aber vor allem sollten wir alle unseren Blick justieren. Und denselben Facettenreichtum, den wir in der männlichen Wut sehen, auch der weiblichen zugestehen. So als kleiner, innerer, rebellischer Akt. Den wir alle vollziehen können – Männer und Frauen und alle dazwischen und abseits davon. Lasst uns die wütenden Frauen feiern, wo auch immer wir sie treffen.
Kolumne von Sarah Lenk
Sarahs Nachtgeschichte