Wie konnte es dazu kommen?
Sandbostel. Ein „gewichtiges“ Buch - was den Umfang von 1.424 Seiten, aber noch mehr den Inhalt betrifft - ist Ende Oktober im Stader Landesarchiv vorgestellt worden. Autor ist Henning Müller. Der promovierte Historiker aus Ober Ochtenhausen hat 14 Jahre daran gearbeitet und mit „Die Völkische Bewegung und der Aufstieg des Nationalsozialismus im Elbe-Weser-Raum (1918 bis 1933)“ ein Werk erstellt, das bei seiner Vorstellung von kompetenter Seite in höchsten Tönen gelobt wurde.
Am Anfang steht ein Zitat: „So ist es nun jetzt kein Wunder, wenn viele, viele unserer Mitglieder uns jetzt in Notzeiten den Rücken kehren und in hellen Scharen zu Hitler laufen.“ Resigniert gesteht der Deutsch-Hannoveraner Klaus Heins aus Grafel 1931 ein, dass der Aufstieg der NSDAP im Elbe-Weser-Raum nicht mehr aufzuhalten ist.
Wie konnte es dazu kommen? Über die politischen Geschehnisse in den Jahren der Weimarer Republik hat Henning Müller bereits zahlreiche Berichte verfasst, wie er überhaupt ein erhebliches Forschungspensum neben seiner Tätigkeit als stellvertretender Leiter des Bremervörder Kreisarchives an den Tag legt.
Müllers vor 120 Gästen vorgestelltes Werk wurde im Sommer 2023 von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg als Dissertation angenommen und mit der Note „sehr gut – magna cum laude“ bewertet.
Jung, dynamisch, antisemitisch
Der 46-Jährige stellt in seiner umfangreichen Analyse die zahlreichen politischen Gruppierungen während der Weimarer Zeit vor. Im Mittelpunkt steht das radikale rechte Lager mit seiner Vielzahl an Parteien, Verbünden und Netzwerken. In dieser „Völkischen Bewegung“ erkennt der Autor den Nährboden für den Aufstieg der Nationalsozialisten. Die als „jung, dynamisch und antisemitisch“ erscheinende Partei werde in der Zeit der Wirtschafts- und Staatskrise für viele Menschen zur einzigen politischen Alternative.
Ausführlich beschreibt Müller, wie die NSDAP, die sich 1926 „als in den Kinderschuhen steckend“ sieht, zur Volkspartei wird. Während sie in den Städten vor allem die Arbeiter anspricht, widmet sie sich im Elbe-Weser-Raum mit viel Engagement und einer den anderen Parteien überlegenen Struktur der mit der Landwirtschaft verbundenen Bevölkerung.
Selbst in kleinsten Dörfern, so schildert es Müller, entstehen Ortsgruppen. Funktionsträger anderer Parteien wechseln die Seiten, viele Pastoren und Dorfschullehrer setzen sich mit ihrer Autorität für die Nationalsozialisten ein. Mit Erfolg, die Welfen-Bewegung als stärkste politische Organisation im Raum zwischen Elbe und Weser wird von den Nazis abgelöst. 1933 wird aus der Demokratie als Staatsform die Diktatur.
Für Professor Norbert Fischer ist Müllers Arbeit die „auf lange Zeit gültige Darstellung“ dieses Themas. In über 70 Archiven ging der Dr. phil. auf die Suche nach Material zu seinem Thema, unzählige Zeitungsartikel und Berichte wertete er aus. Müller habe eine einzigartige Enzyklopädie über die politische Vielfalt der Weimarer Zeit geschaffen, fundiert und lokal verortet, stellte Dr. Hans-Eckhard Dannenberg heraus. Im Stader Landschaftsverband, den Dannenberg als Geschäftsführer leitet, ist Müllers Buch als Band 60 der Schriftenreihe des Verbandes erschienen.
An der Spitze der Forschungstätigkeit
Ebenso beeindruckt zeigte sich das Vorstandsmitglied des Landschaftsverbandes, Dr. Bernd Kappelhoff: Keine Region in Deutschland verfüge über ein derartiges Standardwerk. Der Elbe-Weser-Raum stehe damit an der Spitze der Forschungstätigkeit zu diesem Bereich, meinte der ehemalige Präsident des Niedersächsischen Landesarchivs.
Erleichtert wird die Lektüre der über 1.400 Seiten durch ein Personen- und Ortsregister. Dort findet sich auch der Name Dr. Günther Heyman. In einem spannenden Kapitel schildert Müller, wie der Bremervörder Mediziner vom überzeugten Nationalsozialisten zum Gegner Hitlers und für die NSDAP damit zum „Fall Heyman“ wurde.
Das Buch „Die Völkische Bewegung und der Aufstieg des Nationalsozialismus im Elbe-Weser-Raum (1918 bis 1933)“ ist als Band 60 der Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden erschienen, umfasst 1.424 Seiten mit 344 Abbildungen und kostet 48 Euro.
Der Text ist eine gekürzte und angepasste Version des Artikels „Aufstieg der NSDAP in der Region“ vom 24. Oktober in der Bremervörder Zeitung von Rainer Klöfkorn. Text und Bild wurden Henning Müller zur weiteren Verbreitung zur Verfügung gestellt.