Kommentar: Hartz und Hetze
Die Debatte über das Bürgergeld reißt nicht ab. Kann sich die ökonomisch schwächelnde Nation eine „sechsstellige Zahl von Personen“ leisten, die als „Totalverweigerer“ bei der Arbeitssuche zu gelten haben? Die von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann mal eben so dahingeraunte Anzahl von Personen, die „grundsätzlich nicht bereit“ seien, eine Arbeit anzunehmen, erfüllt ihren demagogischen Zweck: In einer Phase sich zuspitzender ökonomischer Gegensätze und sinkender Profitraten muss die zutiefst gespaltene Klassengesellschaft ideologisch zur Produktionsgemeinschaft zusammengeschweißt werden. Nur so kann sie im härter und prospektiv kriegerisch geführten internationalen Konkurrenzkampf als Kapitalstandort erfolgreich bleiben.
Doch nicht nur die Union, auch die Ampelregierung will „härter“ gegen „Totalverweigerer“ durchgreifen, obwohl sie für die deutsche Volkswirtschaft unbedeutend sind. Christian Lindner (FDP) etwa ist davon überzeugt, dass in der Republik zu viele Menschen lebten, die arbeiten könnten, aber nicht wollten. Das Bürgergeld sei kein „Netz“ in das man „sich fallen lassen kann“, so der Bundesfinanzminister. Sein sogenanntes Wachstumspaket will solchen Leuten mit mehr Sanktionen und Zumutbarkeiten buchstäblich Beine machen.
Die Hetze gegen die angeblich arbeitsunwilligen Bürgergeldempfänger, die es sich in der „Hängematte“ gemütlich machten, dient immer auch der Abschreckung und Disziplinierung der hart arbeitenden Lohnabhängigen. Viele von ihnen befinden sich aufgrund miserabler Arbeitsbedingungen, prekärer Verträge, haufenweise Überstunden und Lohndrückerei körperlich wie mental am Rande des Zusammenbruchs. Diverse Krankenkassenumfragen belegen, dass seit einigen Jahren die Krankschreibungen wegen psychischer und psychosomatischer Beschwerden stark anwachsen.
Niemals dürfen die Arbeitenden aber auf die Idee kommen, dass systematisch etwas faul sein könnte an der Art und Weise, wie diese Gesellschaft Reichtum produziert und wie sie den Menschen ihre Lebenszeit als stets intensivierte Arbeitszeit raubt. Der zufriedene Arbeitslose ist das Schreckbild einer auf Leistungszwang getrimmten Gesellschaft und erweckt im Bürger die Urangst vor dem die Arbeit niederlegenden Pöbel. Allein schon welch eine Kränkung, dass die alten Hartzer dem Namen nach mit ihm gleichgestellt wurden.
Was signalisieren Politiker wie Linnemann und Lindner, aus denen die ‚bürgerliche Mitte‘ spricht, den Malochern also? ‚Ihr habt keine Verbesserungen Eurer Arbeitsbedingungen zu erwarten. Eure Plackerei wird immer so weitergehen; bis zur Rente, deren Eintrittsalter wir Euch absehbar auf 70 und mehr erhöhen werden. Aber seid Euch gewiss, dass wir diejenigen drangsalieren und demütigen, die noch unter Euch stehen.‘ Und die Ersatzbefriedigung funktioniert. Die Stammtische sind sich mit dem gebildeten FAZ-Leser einig: Das Bürgergeld ist gescheitert. Laut Forsa-Umfrage befürwortet die Mehrheit der Deutschen die Streichung der „Stütze“ bei Arbeitsverweigerung. Sie scheinen sich nicht von ihren Unternehmen, sondern von den Bürgergeldempfängern ausgebeutet zu fühlen.
Wenn sich der Grad an Zivilisiertheit einer Gesellschaft auch daran bemisst, wie sie über ihre sozial schwächsten Mitglieder denkt und mit ihnen umgeht, dann kann spätestens seit den ökonomischen Verwerfungen, die durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg verursacht wurden, von einer Verwilderung des ohnehin schon postliberalen Bürgertums gesprochen werden. In Krisenzeiten grassiert der Sozialchauvinismus, der sich ziemlich rasch zum Sozialdarwinismus steigern kann. Nur eine Frage der Zeit, bis man in Polit-Talkshows und Wahlkampfreden Franz Münteferings alte Bibel-Anleihe „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ reaktivieren wird.
Aktuell steht dieser Losung noch das viel zitierte Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 entgegen, wonach gemessen am - notabene - „menschenwürdigen Existenzminimum“ maximal eine Leistungskürzung von 30 Prozent zulässig sei. Der Irrsinn dieses Urteils, das ein Existenzminimum aus der unbedingten Würde des Menschen begründet und es zugleich für unter bestimmten Bedingungen unterschreitbar erklärt, also selbst höchstrichterlich die Würde des Menschen mit Füßen tritt, fällt in diesem Land schon lange kaum noch jemandem auf.
Anstatt wie Linksliberale die aktuellen Bürgergeldregelungen einstweilen noch mit dem Hinweis zu verteidigen, dass die große Mehrheit der Empfänger ‚anständig‘ und die ‚Verweigerer‘ nur eine kleine Minderheit sei, sollte angesichts der autoritären Formierung der Gesellschaft besser an eine kleine, vergessene Streitschrift aus dem 19. Jahrhundert erinnert werden. Unter dem Titel „Das Recht auf Faulheit“ brandmarkt Karl Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue darin die „kapitalistische Moral“ als eine „jämmerliche Kopie“ der christlichen: „Ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten auf das geringste Minimum zu drücken, seine Freude und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet.“ Den christdemokratischen Hetzern von heute sei mit Lafargue entgegnet: „Jehova, der bärtige und sauertöpfische Gott, gibt seinen Verehrern das erhabenste Beispiel idealer Faulheit: nach sechs Tagen Arbeit ruht er auf alle Ewigkeit aus.“
Michael Heidemann lebt und arbeitet als „Aufstocker“ in Bremen.