Patrick Viol

Holocaustrelativierung und Israelhass Teil II: „Nie wieder“ wird zur Floskel

Der Antisemitismus und die Infragestellung der Singularität der Shoa des den Historikerstreit 2.0 auslösenden postkolonialen Theoretikers Achille Mbembes.

Lässt den Holocaust in einer allgemeinen rassistischen Gewaltgeschichte der Moderne aufgehen und rückt Israels Politik in die Nähe der nationalsozialistischen Judenvernichtung: der Historiker Achille Mbembe.

Lässt den Holocaust in einer allgemeinen rassistischen Gewaltgeschichte der Moderne aufgehen und rückt Israels Politik in die Nähe der nationalsozialistischen Judenvernichtung: der Historiker Achille Mbembe.

Die Beispiellosigkeit des Holocaust liegt in der Zentralität des eliminatorischen Erlösungsantisemitismus des Nationalsozialismus begründet. Bei der Verfolgung, Internierung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden ging es nicht um Ausbeutung und Bereicherung. Es ging den Nazis darum, sie auf der ganzen Welt zu töten - koste es, was es wolle. Dieser das Selbsterhaltungsinteresse der Deutschen wie des NS-Staates übersteigende Vernichtungsdrang markiert den Unterschied zu allen anderen genozidalen Verbrechen - auch den kolonialistischen. So brutal, sadistisch und barbarisch sie gewesen sind - sie standen in einem ganz anderen polit-ökonomischen Zusammenhang als der Nationalsozialismus.

Der Kolonialismus stellt eine imperiale Ausdehnung „westlicher Kultur“ dar, von der bei aller Gewalt - wie der postkoloniale, aber in diesem Punkt von seinen weißen Adepten wenig beachtete Theoretiker Paul Gilroy in seinem Buch „The Black Atlantic“ schreibt - auch ein Fortschritt ausging. (Ebenso - aber von anderer Qualität - basiert der ökonomische und politische Fortschritt Europas auf einem Blutsockel; der moderne Lohnarbeiter wurde mit Gewalt geschaffen, Kapital u. a. mit Kinderarbeit von mehr als 15 Stunden am Tag erwirtschaftet.) Der Nationalsozialismus dagegen war ein Angriff auf die „westliche Kultur“, die er im Juden verortete.

Der Kolonialismus ist ein Phänomen von instrumenteller Vernunft innerhalb der Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus, der Nationalsozialismus das diesem entsprungene Resultat seiner Zusammenbruchskrise, dem ein regressives und wahnhaftes Krisenbewusstsein der Deutschen entgegenkam, die sich mit dem Staat als Nothelfer und der Volksgemeinschaft identifizierten und sich von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden ihre Selbstreinigung - die Bewältigung der Krise - erhofften.

 

Allgemeine Gewaltgeschichte?

 

Die Erkenntnis der Singularität der Shoa ist ohne das Verständnis der zentralen Bedeutung des Antisemitismus für den Begriff des Nationalsozialismus nicht zu haben. Die Infragestellung der Singularität der Shoa läuft entsprechend über die Relativierung der zentralen Bedeutung oder Außerachtlassung des Antisemitismus für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik.

Dabei wird der Antisemitismus auf einen antijüdischen Rassismus reduziert, um behaupten zu können, die Vernichtung der Jüdinnen und Juden sei ein Phänomen der allgemeinen mit dem Kolonialismus einsetzenden rassistischen Gewaltgeschichte. Beim Antisemitismus handelt es sich aber nicht um eine Unterform des Rassismus. Während dieser in irrationalen Vorstellungen von minderwertigen Rassen bestehe, sei laut dem Politologen und Antisemitismusbeauftragten des Landes Berlin Samuel Salzborn der Antisemitismus eine umfassende Weltanschauung, in der Antisemiten Juden alles anlasten, was sie in der modernen Welt nicht verstehen oder verachten (das Finanzkapital z. B.). So wurden Juden und Jüdinnen von den Nazis nicht als minderwertige Rasse, sondern als sowohl mächtige wie schwache „Gegenrasse“ verfolgt und vernichtet. Antisemitismus hat eine Erlösungsdimension, die dem Rassismus nicht zu eigen ist.

 

Die abstrakte Endlösung

 

Diesen Unterschied ignorierend und darüber den Holocaust in einer allgemeinen den Antisemitismus relativierenden rassistischen Gewaltgeschichte aufgehen lässt am prominentesten der kamerunische Historiker und postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe. Dabei argumentiert er wie folgt: Laut Mbembe zeichne sich die staatliche Souveränität der Moderne (bis nach dem NS) durch die biopolitische Macht zu töten aus. Die souveräne Macht des „Staates in der Moderne“ liege in der Bestimmung darüber, wer Feind und Zugehöriger sei, wer leben darf und sterben muss. Rassismus habe dabei die Funktion, „die Verteilung des Todes zu regulieren und die mörderischen Funktionen des Staates möglich zu machen“, wie er in seinem Aufsatz „Necropolitics“ von 2003 schreibt. Diese über den Rassismus erfolgende Einteilung von lebenswert und -unwert steigere sich zu einem Zugehörige und Feinde bestimmenden „Trennungswahn“.

Schließlich sei der „Nazi-Staat das vollkommenste Beispiel eines Staates, der sein recht zu töten ausübt“, er habe eine „schreckliche Verdichtung des Rechts zu töten“ betrieben, welche „im Projekt der ‚Endlösung‘ kulminierte“, wie Mbembe weiter ausführt.

Mit dieser abstrakten Bestimmung der „Endlösung“ lässt sie sich auf alle möglichen staatlich organisierten Verbrechen übertragen. Für Mbembe sind daher das Apartheidregime in Südafrika und die Vernichtung der Juden „zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns“.

 

„Nie wieder“ wird zur Floskel

 

Damit wird der Holocaust zum einen zu einer ahistorischen Folie für Grausamkeiten: So verbreitet sich eine Rede von einem Afrikanischen Holocaust, auch Maafa genannt, der sich durch Imperialismus und Kolonialismus bis heut fortsetze. Zum anderen verkommt der Holocaust zu einer auswechselbaren moralischen Unterfütterung politischer Anklagen - die berühmte amerikanische Kongressabgeordnete und Sozialistin Alexandria Ocasio-Cortez spricht auf dieser Grundlage zum Beispiel von Konzentrationslagern an der amerikanischen Grenze.

Darüber hinaus wird die historische Erkenntnis über die spezifische, die Singularität des Holocaust bedingende polit-ökonomische Konstellation dem Vergessen überantwortet, wodurch das „Nie wieder“ letztlich ganz zur Floskel wird. Entsprechend kritisiert der Historiker und Politikwissenschaftler Dr. Alexander Gruber in seinem Text zu Mbembe mit dem Titel „Speerspitze des postkolonialen Antisemitismus“: „Indem der Nazi-Staat von Mbembe bloß als Extremform ‚biopolitischer‘ Souveränität und ihrer Technologie des Rassismus verstanden wird, die - wenn auch in geringerer Intensität - gleichermaßen dem Kolonialismus und der Apartheid zugrunde lägen, wird die nationalsozialistische Judenvernichtung letzten Endes in der Geschichte der Souveränität und ihres Recht zu töten, also in einer Art ‚allgemeiner Gewaltgeschichte‘ aufgehoben und zum Verschwinden gebracht.“

 

Der Hass auf Israel

 

Als postkolonialem Theoretiker geht es Mbembe aber nicht nur um die koloniale Vergangenheit, sondern um deren Fortleben in der Gegenwart: um den sich etwas anders ausnehmenden Postkolonialismus. Während die koloniale Macht in der biopolitischen Trennung von lebenswert und -unwert bestanden habe, bestehe die postmoderne Souveränität darin, zu entscheiden, wer „wegwerfbar sei und wer nicht“. Diese Souveränität sei eine „Nekromacht“, die auf einer „Umkehrung des Verhältnisses zwischen Leben und Tod“ basiere, „als wäre das Leben nur das Medium des Todes“, wie Mbembe in seinem Buch „Politik der Feindschaft“ schreibt.

Und die „vollkommenste Form der Nekromacht“ - hier zeigt sich, dass Holocaustrelativierung und Israelhass zusammengehören - "ist die aktuelle koloniale Besetzung Palästinas.“ Laut Mbembe betrachte Israel die Palästinenser nur noch als loszuwerdenden Abfall, weshalb der Staat der Juden und Jüdinnen schlimmer sei als das südafrikanische Apartheidsystem. „In Südafrika erreichten die Trümmerberge niemals solche Ausmaße“, so Mbembe. Aber Israels Nekropolitik übersteige nicht nur die Apartheidspolitik. Mbembe rücke laut Gruber Israels Politik explizit in die Nähe der nationalsozialistischen Judenvernichtung, wenn er in einem Facebookpost schreibt: „Wenn der Holocaust die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts war, dann ist die Palästinafrage der größte moralische Skandal unserer Zeit.“ Die nekropolitischen Maßnahmen Israels bestünden laut Mbembe darin, die Palästinenser in „zu Gefängnissen gemachte Territorien“ zu sperren und sie mit „ständiger außergerichtlicher Ermordung“ zu quälen.

Das täte Israel, weil die Juden aus der Tatsache, dass sie Opfer der Weltgeschichte waren, einen Fetisch gemacht hätten und Opfersubjekte könnten niemals aufhören anderen anzutun, was sie selbst erlebt haben, wie Mmebe in einem Interview mit dem Eurozine erklärt.

Die Juden hätten also einen unauflösliches Bedürfnis nach Feindschaft. So werde, wie Gruber kritisiert, die „vergangene Verfolgung und Vernichtung der Juden ... zur Rechtfertigung heutiger Ranküne und Verdammung herangezogen.“

Wegen dieses offenkundigen Antisemitismus hatte sich 2020 der kulturpolitische Sprecher der FDP-Fraktion in NRW dafür eingesetzt, dass Mbembe nicht wie von der Intendantin geplant auf der Ruhrtriennale die Eröffnungsrede hält. Daraufhin brach eine erneute Antisemitismusdebatte aus, die im Historikerstreit 2.0 mündete. Dabei zeigte sich auf Seiten der Verteidiger Mbembes eine weitere Form linken Schlussstrichs unter den NS, vertreten durch den Literaturwissenschaftler Michael Rothberg, die abschließend im letzten Teil in der nächsten Woche dargestellt werden soll.

 

Info: Ursprünglich waren nur zwei Teile zum Thema geplant. Um aber eine zu starke, das Verständnis der Debatte beschränkende Verkürzung zu vermeiden, entschied sich die Redaktion für eine Dreiteilung.


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