Nadine Schilling

Das leere Weihnachtsfenster oder der bunte, schwarzhaarige Engel

Emmchen war schon so alt, dass sie nicht mehr genau wusste, wie alt sie ist. So wie in den vergangenen Jahren saß sie alleine am Heiligabend an ihrem Küchentisch und schaute durch das ungeschmückte Fenster nach draußen auf die Straße. Die Gehwege und Straßen waren menschenleer und so hang sie ihren Gedanken nach.
Es war schon etliche Jahre her, dass Weihnachtsdeko in diesem Fenster hing. Das letzte Mal, als hier Deko hing, muss zu Lebzeiten Ihre Mutter gewesen sein. Ihr Vater und sie hatten gemeinsam Ihre Mutter, die im hohen Alter an Krebs erkrankte, zu Hause bis zum Schluss gepflegt. Nach ihrem Tod versank ihr Vater in Trauer, selbst die Weihnachtsdekoration im Küchenfenster erwärmte nicht mehr sein Herz. Er wollte sie auch nicht mehr sehen und so nahm sie diese damals wieder ab und hing sie von da an nie wieder auf.
Als ihr Vater verstarb, blieb sie in dem großen Haus ihrer Eltern wohnen, den restlichen Kredit zahlte sie ab und so konnte sie hier finanziell sorgenfrei leben. So war sie ihren verstorbenen Eltern immer noch irgendwie nah und fühlte sich trotz der Einsamkeit geborgen. Gerne erinnerte sie sich an sie zurück. „Ihr Emmchen,“ wurde sie liebevoll von ihnen genannt. Bis zum Ende hatte sie ihre Eltern überall unterstützt - so wie sie es sich halt neben dem Beruf einrichten konnte.
Bei allen Dingen, was es so im Alltag ihrer Eltern zu bewältigen gab, hatte sie unterstützt. Ihre Eltern waren immer so stolz auf sie und sie waren immer ein gutes Team. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Jahre vergingen. Bei den vielen Aufgaben, die stetig zu bewältigen waren, stellte sie ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche ihrer Eltern zu liebe in den Hintergrund. Sie hat nie daran gedacht eine eigene Familie zu gründen – egal in welcher Form auch immer. Sie hat ein Lebtag nur Liebe für Ihre Eltern empfunden, und die haben sie nicht ermuntert, in die Welt hinauszugehen und sie mit all den Menschen, die ihn ihr lebten, zu entdecken. Jedes Mal, wenn Freunde von ihr etwas Dummes gemacht haben, hat ihre Mutter ihr abgeraten die Freundschaften aufrechtzuerhalten. So hatte sie eine Freundschaft nach der anderen gebrochen, vielleicht hatte sie ja auch etwas falsch gemacht. Nun hatte sie keine Freunde mehr, die sie dazu fragen könnte.
So in ihren Gedanken verhangen sah sie, dass die Nachbarin mit ihrer Tochter vorbeiging. „Die sehen nicht aus, als ob sie von hier wären“, murmelte sie vor sich hin. Wie die beiden wieder aussehen, total bunt. Ihre Tochter nervte sie immer mit ihrer hohen Quickstimme. Mittags, wenn sich Emmchen hinlegen wollte, spielet sie draußen und machte mit ihren Freundinnen so viel Lärm, dass sie nicht schlafen konnte. Abends machen die Kleinen auch nie Schluss. Griesgrämig fragte sie sich: „Müssen die Kinder heutzutage nicht mehr früh ins Bett?“ Die anderen Kinder in ihrer Nachbarschaft sind auch nicht wirklich ruhiger. Irgendwie war das früher anders. Diese Kleine von nebenan steckt bestimmt ebenfalls hinter den häufigen Klingelstreichen, die bei ihr gemacht werden.
Immer, wenn es an der Tür klingelte, freute sie sich auf den bevorstehenden Besuch, und dann stand doch niemand vor der Tür. In diesem Moment musste sie traurig feststellen, dass es da niemanden gab, der sie besuchen kommen könnte. Ob ihre Nachbarin heute mit der Tochter in der Kirche geht? Emmchen konnte damit seit Jahren nichts mehr anfangen, „Zeitverschwendung,“ dachte sie und immer die gleichen Lieder. Wo die Nachbarin wohl ihren Mann gelassen hat, bestimmt hat sie diesen vergrault. Die selbstbewussten Frauen heutzutage vergraulen immer ihre Männer. Na ja, sie hatte noch nicht mal einen zum Vergraulen gehabt.
Es klingelt – wieder so ein dummer Klingelstreich. „Ach was soll`s, so komme ich wenigstens wieder in Bewegung“, sagte sie sich. Sie schlurft zur Tür und öffnete diese. „Hallo! Haben sie nicht Lust, zu uns zum Kaffee, rüber zu kommen?“ fragt freundlich ein helles, leises Stimmchen. Emmchen traut ihren Augen kaum, das Mädchen von nebenan sieht ein bisschen aus wie ein kleiner bunter, schwarzhaariger Engel. Sie kann es irgendwie gar nicht richtig glauben, da steht ihre Nachbarin mit ihrem kleinen Mädchen und laden sie, ja sie Emmchen, ein. „Ja“, hört sie sich selber sagen: „Ja gerne.“ Emmchen zieht sich schnell ihre Jacke und ihre Schuhe an. Auf einmal lassen sich die Füße viel schneller bewegen. Beschwingt folgt sie den Zweien, die sie bis eben eigentlich nicht mochte, ein Haus weiter.
Emmchen sieht zum ersten Mal das Haus ihrer Nachbarin von innen. Es ist ein liebevoll eingerichtetes Haus. Mitten im Wohnzimmer steht ein wundervoll gedeckter Kaffeetisch für sie drei. Es duftet hier einfach herrlich. Wie im Fluge vergeht der Nachmittag und nun muss die Kleine schon ins Bett. „Schade“, denkt Emmchen, „muss die Kleine schon so früh ins Bett?“
Sie zieht sich wieder ihre Jacke und ihre Schuhe an. Nun läuft alles wieder etwas langsamer ab, die Knochen machen halt manchmal nicht so mit, wie sie sollen. Aufmerksam hilft ihr ihre Nachbarin in die Jacke. Glücklich stellt sie fest, dass sie ist, nicht alleine ist. Sie lag auch mit ihrer Meinung über die Nachbarin mit ihrer Tochter falsch. Die Nachbarin hat ihren Mann nicht vergrault, er ist jung verstorben und sie hat ihre Heimat verlassen, um ihrer Tochter eine freie Zukunft zu ermöglichen. In einem Land, wo Kinder liebevoll und unbekümmert aufwachsen können. Laut ist sie, weil Kinder wohl so sind. Doch jetzt möchte die Kleine immer für Emmchen mittags leise sein, da sie nun weiß, dass sie sich mittags hinlegt.
Gefüllt von den vielen guten Leckerein, dessen Name sie sich doch nicht merken konnte. Schreitet sie in Richtung Tür. „Geborgenheit! Ja, die gleichen Lieder geben mir Geborgenheit. Es ist keine Zeitverschwendung, sondern eine Zeit, die das Herz erfüllt,“ begreift Emmchen plötzlich.
Sie beschließt heute Abend doch noch in die Kirche zu gehen. „Vielleicht treffe ich sogar Freunde von früher“, hofft Emmchen, für einen Neuanfang ist es nie zu spät. Vorher möchte sie jedoch noch die Weihnachtsdeckoration vom Dachboden holen, damit das Fenster endlich wieder weihnachtlich geschmückt wird.
In der Tür angekommen dreht sie sich um, um sich zu verabschieden. „Darf ich dich ab jetzt immer Tante Emmchen nennen?“, fragt die Kleine mit leuchtenden Augen. Emmchen strahlt: „Jederzeit, danke für alles. Beim nächsten Mal bei mir.“ „Ja gerne, jedoch bitte nicht erst am Heiligabend,“ lacht die freundliche Nachbarin sie an.
Sandra Schlemminger, Schwanewede


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