Sarah Lenk

Sarahs (Weih)Nachtgeschichte: Der deutsche Kartoffelsalat als Illusion

Nachtbeobachtungen durch die philosophische Brille, mit dunklem Witz und Kritik - unsere Kolumne von Sarah Lenk.

Die Einheit des Kartoffelsalates ist genauso wenig gegeben wie die Einheit in der Nation.

Die Einheit des Kartoffelsalates ist genauso wenig gegeben wie die Einheit in der Nation.

Bild: Wiki commons

19:26 in irgendeinem deutschen Wohnzimmer am Heiligen Abend. Millionen Familien sitzen zusammen am festlichen Tisch, auf dem eine große Schale Kartoffelsalat steht. Noch immer ist Kartoffelsalat und Würstchen auf Platz 1 der deutschen Weihnachtsessen. Es ist praktisch, lecker und Tradition.

Was im ersten Moment so einheitlich wirkt, zeigt bei genaueren Hinschauen, dass sowohl der deutsche Kartoffelsalat als auch die deutsche Nation eine Phantasie sind. Die Salate existieren, die nationale Einheit jedoch nicht. Man kann nicht von einem deutschen Kartoffelsalat sprechen, es sind viele. Die Einheit des Kartoffelsalates ist genauso wenig gegeben wie die Einheit in der Nation. Wir sollten uns endlich zum Flickenteppich bekennen.

Es wäre viel sinnvoller, von Kartoffelsalaten deutscher Regionen zu sprechen. Denn es werden höchst unterschiedliche Speisen darunter verstanden, welche lediglich ihre Hauptzutat gemeinsam haben: Kartoffeln.

Die grundlegende Teilung ist vertikal: Im Norden bereitet man ihn mit Majo zu. Im Süden mit Brühe. Wobei dieser Süden ein kultureller ist und sich bis nach Österreich und Kroatien zieht. Der kulturelle Majo-Raum reicht bis nach Polen und Tschechien. Aber jede Region hat natürlich eigene Varianten, ist eben Flickenteppich und nicht zwei mittelgroße Teppiche.

Wir im Norden kennen den exotischen schwäbischen Kartoffelsalat mit Brühe, haben aber keine Ahnung, dass dieser stark abgegrenzt werden muss vom badischen Kartoffelsalat. Diesem wird Speck hinzugefügt, den der Schwäbische nicht kennt.

Auch im Majo-Gebiet ist keine Einheitlichkeit gewünscht. Im Rheinland fügt man Äpfel oder Gewürzgurken hinzu, im Norden gern noch gekochtes Ei, in Brandenburg nimmt man Radieschen oder Zwiebeln. Kaum etwas ist so vielfältig wie Zutaten für deutsche Kartoffelsalate. Ein deutscher Kartoffelsalat existiert nicht.

Genauso wie es den deutschen Kartoffelsalat nicht gibt, gibt es auch keine deutsche Identität. Wer versucht, sie zu benennen, macht sich notwendigerweise lächerlich. Wie sämtliche Versuche, eine deutsche Leitkultur zu benennen. Niemand von uns ist deutsch. Wir sind Bayern, Hamburger, Oberpfälzer, Osterholzer, Ost-Westfale, usw.

Der Vorteil von regionaler Identität ist ihre größere Offenheit. Wirklich deutsch ist nur, wer weiß genug ist und den richtigen Namen hat. Um beispielsweise Bremer zu sein, spielt das weniger eine Rolle. Wer lange genug da ist, der gehört irgendwann dazu. Wie lang das so dauert – da sind die Unterschiede regional verschieden (Flickenteppich und so), in Großstädten gemeinhin schneller als auf dem Land. Und selbst dort spielen Hautfarbe und Herkunftsland der Eltern weniger eine Rolle. Jeder, der nicht vom eigenen Flicken stammt, ist ein Fremder, ein Zugereister. - Die Nation ist ausschließende eine Phantasie, die Scholle offen für alles.


UNTERNEHMEN DER REGION